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„Barmherzig wie der Vater“

Brief des Bischofs zur österlichen Bußzeit 2016

Liebe Schwestern und Brüder, „Die verlorene Barmherzigkeit“ – so lautet der Titel eines Buches, das 1993 in deutscher Sprache erschienen ist. Verfasst hat es der russische Schriftsteller Daniil Granin. Anlass dazu war für ihn die Erfahrung, die er einige Jahre zuvor im damaligen Leningrad gemacht hatte. Nach einem schweren Sturz auf belebter Straße war er blutüberströmt einfach liegen gelassen worden; niemand hatte sich um ihn gekümmert. Infolge dessen wurde ihm immer mehr bewusst, dass die einstmals in Russland hochgeschätzte Haltung der Barmherzigkeit unter kommunistischer Herrschaft nicht nur vergessen, sondern sogar regelrecht ausgemerzt worden war. Selbst das Wort dafür – Miloserdie – hatte man aus dem Lexikon getilgt. Barmherzig zu sein, galt als hoffnungslos veraltet und der modernen sowjetischen Gesellschaft als völlig unangemessen.

Und heutzutage werden bei uns Menschen, die sich als barmherzig erweisen, von anderen lächerlich gemacht. Dafür steht z.B. der Begriff „Gutmensch“, der erst kürzlich zum „Unwort des Jahres“ gewählt worden ist. Damit sind besonders all diejenigen gemeint, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge einsetzen. „Gutmenschen“ – so ist zu hören – trügen nicht zu einer Verbesserung der Lage bei, sondern machten sie eher noch schlimmer. Ihre Hilfsbereitschaft sei naiv, dumm und weltfremd. Solche Personen seien entweder von einem Helfersyndrom befallen oder der anmaßenden Meinung, anderen moralisch überlegen zu sein. Und die jüngsten Ereignisse in der Kölner Silvesternacht scheinen da nur jene zu bestätigen, die es schon seit einiger Zeit für völlig verfehlt halten, so menschenfreundlich mit den Flüchtlingen umzugehen.

Bischof Dr. Gerhard FeigeIst Barmherzigkeit also veraltet? Erniedrigt sie Menschen vielleicht sogar? Brauchen wir sie überhaupt noch in unserer Gesellschaft? Schließlich existiert in Deutschland ja ein gut organisiertes Sozialsystem, um das uns andere beneiden. Mit diesem Netz kann sicher die größte Not aufgefangen werden. Und doch gibt es immer wieder Menschen, die durch dessen Maschen fallen. Keine noch so durchdachte Regelung kann jeder konkreten Not wirklich gerecht werden. Dazu kommt, dass unsere Welt nie fertig ist. „Immer wieder treten neue Not-, Armuts- und Krisensituationen auf“ (W. Kasper), die ohne Barmherzigkeit sehr oft gar nicht wahrgenommen werden. Zugleich kann auch die Motivation fehlen, für Abhilfe zu sorgen.

Ein Beispiel dafür ist, wie wir in Europa mit den Flüchtlingen umgehen, die zu uns kommen. Das lässt ja derzeit kaum jemanden kalt. Befremdlicherweise machen dabei auch Verschwörungstheorien die Runde, führt Angst zu Wut und Hass, wird hemmungs- und respektlos gegen andere gehetzt, kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, brennen sogar Flüchtlingsunterkünfte. Das kann nicht einfach hingenommen werden! Große Anstrengungen sind nötig, um solchen Entwicklungen entgegenzusteuern und konstruktive Lösungen zu finden. Hierbei ist der Staat mit seinen Möglichkeiten gefragt, aber auch die Zivilcourage von uns allen. Dazu gehört unweigerlich auch eine große Sensibilität für die leibliche, seelische und geistige Not so vieler Menschen. Auch in der gerechtesten Gesellschaft ist die Sehnsucht nach mehr als nur Versorgung und Beteiligung, der Schrei nach liebevoller Zuwendung oder Barmherzigkeit – mag er laut sein oder leise – unüberhörbar. Und wir Christen sind hier in besonderer Weise herausgefordert. Warum?

Biblisches Zeugnis

„Barmherzig wie der Vater“, so lautet das Leitwort des Heiligen Jahres, das Papst Franziskus am 8. Dezember 2015 eröffnet hat. Ist das jedoch so einfach mit der Barmherzigkeit Gottes? Hören wir in der Bibel, vor allem im Alten Testament, nicht auch davon, dass Gott Gebote erlässt, Übertretungen nicht einfach hinnimmt und durchaus ein strenger Richter sein kann? Und gibt es nicht auch die Möglichkeit zu scheitern? Werden wir nicht immer wieder aus gutem Grund zur Umkehr gerufen? Wie verträgt sich das mit dem Bild eines Gottes, der unendlich geduldig ist? Ist das nicht ein allzu harmloser „lieber Gott“?

Diese Frage hat schon die Theologen aller Epochen beschäftigt. Dabei haben sie vor allem von den Mystikerinnen und Mystikern entscheidende Impulse bekommen. Und diese bezeugen einmütig, dass das Größte und Erste in Gott seine Barmherzigkeit ist. Ihr ist alles andere untergeordnet. Gottes Größe und Allmacht zeigen sich gerade in seiner Barmherzigkeit. Allerdings richtet diese sich an unsere menschliche Freiheit, sie wird uns nicht gegen unseren Willen von Gott übergestülpt, ist also keine „billige Gnade“.

Auch wenn an dieser Stelle ein unauflösbares Geheimnis bleibt, gibt uns das biblische Zeugnis allen Grund, dem barmherzigen Gott bedingungslos zu vertrauen. Unzählige Menschen haben in der Geschichte Israels die Erfahrung mit Gott gemacht und sie weitererzählt, dass er niemals aufhört, uns zu suchen und zu retten. Und die Propheten rufen immer wieder dazu auf, sich gegenüber den Nächsten genauso zu verhalten. Ohne Barmherzigkeit ist alle Gottesverehrung, aller Gottesdienst, sind alle Opfer, die Menschen Gott darbringen, nichts, ohne Bedeutung, fast sinnlos.

Vor allem aber können wir an Jesus Christus sehen, wie sehr das Erbarmen Gottes das Zentrum seiner Botschaft ist. Wann immer er von Gott spricht, verbindet er dies mit einer heilenden und befreienden Nähe. Er berührt Menschen, die krank oder ausgestoßen sind. Er isst mit Sündern, verzeiht und richtet diejenigen auf, die öffentlich verurteilt werden. Er nimmt sogar einen Zollbeamten wie  Matthäus, der den anderen als Verräter galt, unter seine Jünger auf. Und in immer neuen Gleichnissen versucht er, die Herzen der Menschen dafür zu öffnen, dass sie von Gottes Barmherzigkeit niemals groß genug denken können. Dafür ist er schließlich sogar in den Tod gegangen. „Er lebte“ – wie ein französischer Marxist (Roger Garaudy) über Jesus einmal schreibt – „auf eine Weise, die sein ganzes Leben kennzeichnete: jeder von uns kann in jedem Augenblick zu neuer Hoffnung aufbrechen.“

„ … handle genauso!“

„Ohne Zweifel“ – so war von Papst Franziskus schon gleich nach seiner Amtseinführung zu hören – „ist die Barmherzigkeit die stärkste Botschaft des Herrn.“ Das zeigt sich auch in der innigen Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, wie Christus sie uns vorgelebt hat und ans Herz legt. „Ein neues Gebot gebe ich euch“ – sagt er – „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Das ist keine unverbindliche Empfehlung, sondern gehört zum Wesen unseres Glaubens. Daran sollen wir erkennbar sein. Weil wir gewissermaßen – so vergleicht es Madeleine Delbrêl einmal – wie eine Batterie mit der Liebe Christi „geladen“ sind, können und sollen wir auch die anderen lieben, ihnen Gutes tun und Barmherzigkeit erweisen. Dabei ist nicht unsere Großzügigkeit, Berechnung oder Rührung der Maßstab, sondern die Notlage und Bedürftigkeit derer, die unseren Weg kreuzen. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck. Während die etablierten Personen – Priester und Levit – eher fragen: „Was wird aus mir, wenn ich dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfe?“, ist der Samariter, der als Fremder zufällig des Weges kommt, von der Sorge erfüllt: „Was wird aus dem, der da liegt, wenn ich ihm nicht helfe?“

Auf die Frage: „Was halten Sie vom Christentum?“ hat Heinrich Böll einmal geantwortet: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen“. Und als Begründung hat er hinzugefügt: In einer vom Christentum geprägten Welt „gibt es Raum für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache“. Dafür gilt es, sich – gerade angesichts gegenwärtiger Entwicklungen in unserer Gesellschaft – weiterhin tatkräftig einzusetzen. Die Würde aller Menschen soll auch künftig unantastbar bleiben. Dazu ist noch mehr Gerechtigkeit vonnöten, dazu gehört aber auch viel Barmherzigkeit.

Niemand von uns kann und soll sich um alle kümmern, die Not leiden. Es gibt aber genügend Gelegenheiten, wo wir ganz gefordert sind; und da kommt es darauf an, ob wir achtlos vorübergehen oder barmherzig reagieren. Auch uns gilt, was Jesus am Ende des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter sagt: „Dann geh und handle genauso!“ Wenn wir davon wirklich gepackt würden und es ernst nähmen, könnte unsere Welt tatsächlich heller, wärmer und liebevoller werden. Es ist – so meine ich – nicht das Schlechteste, für einen „Gutmenschen“ gehalten zu werden oder sich in der Nachfolge Jesu Christi darum zu bemühen, ein barmherziger Mensch zu sein.

In herzlicher Verbundenheit erbitte ich Ihnen dazu allen den Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Magdeburg, am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit 2016
Ihr Bischof
+ Gerhard Feige

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