VII. Tote begraben

In meinem Treppenhaus steht eine kleine Holztruhe, gefüllt mit Karten, die einen Namen tragen – Namen der Menschen, von denen ich in meinem Leben Abschied nehmen musste: aus Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft und aus der Hospizbegleitung. Wenn ich in meinen Begleitungen Wege mit Trauenden und Sterbenden gehe, dann nehme ich mir das lebendige Erinnern als wesentliche Aufgabe vor. Immer wieder im laufenden Alltag sitze ich neben der Truhe und schenke Menschen auf den Karten und den erinnerten Begegnungen einfach Zeit – mein ganz persönliches „Stufengebet“ auf den Treppenstufen zuhause.
Wenn „Tote bestatten“ als Werk der Barmherzigkeit getan wird, ist es für mich nicht nur das Ritual in der Trauerhalle oder am Grab, sondern auch das Mittragen und das Andenken (das versprochene Gebet) im eigenen Alltag. In der Regel sind es dabei nichtkirchliche Familien, die um Begleitung im Abschied bitten. Betroffene mit einem lebendigen konfessionellen Hintergrund finden offenbar ihre Begleitung in der christlichen Nachbarschaft oder im Pastoralteam ihrer Pfarrei.

Bei meinen nichtkirchlichen Begleitungen hingegen erlebe ich, dass das Angebot, die Sorge um den Sterbenden oder Verstorbenen, die erfahrenen Grenzen mit ins Gebet zu nehmen, von Betroffenen dankbar angenommen (wenn nicht sogar gewünscht) wird, für viele ein sinnstiftender Dienst ist, der sie selbst überfordert.
 

Das tun, was heute dran ist - darin begleitet werden

Heute erinnere ich mich besonders an Stella. Ihre Eltern haben eben erst angerufen und freuen sich auf einen neuen Termin auch nach Stellas Beisetzung. Der Weg mit Stellas Familie war ein ganz außergewöhnlicher, und er wird es für mich noch einige Zeit bleiben. Mit drei Monaten bekamen Stellas Eltern die Diagnose ihres Kindes und damit die Mitteilung, dass für Stella nur noch ein ¾ Jahr Lebenszeit zu erwarten sei. Eine Kollegin vom Ambulanten Kinderpflegedienst empfahl den Eltern, mich als Begleiter hinzu zu ziehen. Ein intensiver Weg nahm seinen Anfang.
Klaus Tilly

arbeitet seit 1996 als Referent im Bischöflichen Ordinariat Magdeburg. Ehrenamtlich engagiert er sich in der Hospizarbeit und begleitet vor allem Kinder und ihre Familien in Zeiten des Abschieds und der Trauer. Immer wieder wird er gebeten, die Trauerfeier und auch die Beerdigung zu gestalten..
Gespräche über den Abschied waren während der ersten Wochen nicht möglich: „Das tun, was heute dran ist“, war das Konzept der Eltern und darin wollten sie begleitet werden. Nach dem Besuch einer beeindruckenden Tauffeier im Freundeskreis dann überraschend die Frage, ob sie für Stella nicht auch so ein schönes Fest haben können. Noch vor dem gemeinsamen Blick auf Sakramente und Rituale an den Wendezeiten des Lebens haben die Eltern formuliert, was für sie die Taufe ihres Kindes bedeute: „Wir wissen, dass wir von Stella bald Abschied nehmen müssen. Da möchten wir vorher mit ihr das Leben feiern – ein Leben, von dem wir wünschen, dass es mit Stellas Sterben kein Ende findet.“ Und im Blick auf ihr Weiterleben ohne das Kind: „Wir wünschen uns, dass da jemand ist, der Stella in seinen Händen hält, wenn wir ihr Leben loslassen müssen“.

Das wollten sich die Eltern in der Taufe zusagen lassen, so dass sie darauf vertrauen können. Wenige Tage vor ihrem Sterben konnten wir Stellas Taufe feiern und für die Trauerfeier und Beisetzung wünschten die Eltern die Texte und Lieder der Taufe – Texte und Lieder, die vom Leben erzählen.
„Wir wünschen uns, dass da jemand ist, der Stella in seinen Händen hält, wenn wir ihr Leben loslassen müssen“
Wie bei allen Abschiedsfeiern von Kindern konnten wir nach dem Weg zum Grab mit den Trauergästen den Blick in den Himmel richten: Luftballons mit guten Wünschen (Segen = Benedicere: ich sage / wünsche dir Gutes) boten die Möglichkeit, für sich, für die Verstorbene und mit den anderen etwas zu tun und mit dem Blick nach oben, mit dem Blick auf Stellas neues Leben selbst in ein neues Leben zu gehen.

Das konkrete Ritual am Grab muss dabei sinnvoll immer an die vertrauten Symbole im Familienleben angepasst werden: Stellas Weg sollte ein Weg mit Sternen sein, darum haben die Trauergäste Leuchtsterne ins Grab gestreut. Bei einem kleinen Jungen, Noah, war es das tägliche Schlaflied „Guten Abend, gut Nacht“, mit dem ich die Andacht am Grab beendete und wir alle ihn mit Rosen und Nelken bedeckten, wozu ich von der Erfüllung der Hoffnung verkünden konnte: „Ja, Gott will dich wecken."

Was für Stella das Licht der Taufkerze war, das in der Abschiedsfeier an der Osterkerze entzündet wurde, war für die kleine Celina, die nur einige Tage vor ihrem ersten Geburtstag starb das Entzünden einer Geburtstagskerze für ihr neues Leben. Und auch der von der Mutter ausgewählte Lesungstext war, wenn auch nicht biblisch (wie sollte er auch) für mich tief religiös – fast ein Evangelium:
„Der Weg war steinig,
der Berg war hoch,
die Kraft zu schwach
und dein Atem zu kurz.

Da nahm dich ein Engel in die Arme und sprach:
Komm heim.“
Bemerkenswert, weil zu Beginn von Celinas Begleitung ihre Mutter noch die Regel festlegte: „In unserem Haus wird nicht von Engeln und Himmel geredet.“

Ja, Wege des Abschieds verändern – die betroffenen Familien und auch die Begleitenden (mich als Begleitenden), das durfte ich in diesem Dienst immer wieder erleben und diese Erfahrung wünsche ich jedem, der sich mit Trauernden und Sterbenden auf diesem Weg in ein neues Leben macht. Tote bestatten als Werk der Barmherzigkeit ist für mich mehr als die Gestaltung der Trauerfeier und die Begleitung auf dem Weg zum Grab. Intensiv wird dieser Dienst, wenn es ein Weg des Abschieds schon in den Tagen oder Wochen vorher, also auch ein Stück des gemeinsamen Lebensweges wird. Lebenswege, die ich für betroffene Familien immer freudiger, intensiver, gefüllter als meinen „normalen“ Alltag erleben durfte und an die ich mich gern dankbar erinnere, abends auf meiner Treppenstufe.   
 
Klaus Tilly
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Newsletter des Fachbereichs Pastoral in Kirche und Gesellschaft

im Bischöflichen Ordinariat Magdeburg

(Ausgabe April 2016)
Bilder:
Holztruhe © Klaus Tilly
Luftballons © beerfan / Fotolia
Kerze © Jeanette Dietl / Fotolia
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