Essay

Unterscheidung der Geister oder:
Nicht jeder Vogel ist schon der Heilige Geist


Rabbi Pinchas fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ (Martin Buber)

Wie kann man die Nacht vom Tag unterscheiden, wie das Dunkel vom Licht? Oder in der Sprache der Bibel ausgedrückt: Wie kann man die Wirkung des Geistes Gottes von den Wirkungen anderer Kräfte und Mächte unterscheiden?

Diese Frage ist keine Spezialfrage für geistliche Experten. Sie durchzieht die gesamte Geschichte Gottes mit uns Menschen. Im Alten Testament wird das Volk Israel immer wieder dazu herausgefordert, sich für oder gegen Jahwe zu entscheiden, zwischen Leben und Tod zu wählen. Und im Neuen Testament zeigt sich: An Jesus Christus scheiden sich die Geister. Ist er der Sohn Gottes – oder einfach der Zimmermann aus Nazareth, von dem seine Verwandten sagen, dass er „von Sinnen“ sei? Vor allem die ersten christlichen Gemeinden haben immer wieder darum gerungen, wie sie im Geiste Jesu Christi leben sollen. Obwohl sich alle auf ihn berufen haben, gab es schon in kürzester Zeit heftige Auseinandersetzungen um die „richtige“ Praxis. Darf man das Fleisch, das auf dem Markt als Götzenopferfleisch angeboten wird, essen oder nicht? Das war z.B. eine ganz alltagspraktische Frage für diejenigen, die zum Einkaufen gingen. Oder noch tief greifender: Müssen sich Heiden, die sich taufen lassen wollen, zuerst beschneiden lassen oder nicht?

Menschliches Leben drängt auf Entscheidung

Solche Fragen lassen sich ohne Weiteres auf die heutige kirchliche Praxis übertragen. Ein ganz aktuelles Beispiel: Soll man Vertreter/innen einer Partei wie z.B. die AfD auf ein Podium des Katholikentags einladen oder nicht? Oder auf das Gemeindeleben bezogen: Welche Schwerpunkte sollen wir in unserer Pastoral setzen und was sollen wir dafür lassen? In jeder Pfarrei gibt es „verschiedene Kräfte, die wirken“ – und doch muss es immer um „den einen Geist“ gehen. Eine urchristliche Herausforderung!

Damit wird deutlich: Unterscheidung der Geister ist in der Geschichte der Kirche „ein durch die Jahrtausende gehender Suchprozess, Evangelium im jeweiligen ‚Heute Gottes’ zu leben“ (Willi Lambert SJ).

Auf der einen Seite ist das ein gemeinschaftlicher Prozess. Es betrifft aber auch den individuellen Weg eines Menschen. Das zeigt sich in Entscheidungen, die das Leben langfristig prägen können: Zu welcher Lebensform bin ich berufen? Welchen Beruf soll ich ergreifen? Soll ich noch einmal etwas ganz Neues anfangen? Sollen wir unsere Kinder auf diese oder jene Schule schicken? Oft zeigt es sich auch im Alltag: Soll ich für den Pfarrgemeinderat kandidieren? Wann und wie spreche ich bei einer Kollegin etwas Schwieriges an?

Für uns Christen geht es in alldem darum, den Willen Gottes in einer ganz konkreten Situation zu erkennen. Oder anders gesagt: Es bedeutet zu hören, was sein soll.
 

Regeln zur Unterscheidung der Geister: Ignatius von Loyola


In der Tradition der Kirche gibt es hierzu viele Anregungen und Hilfen. Besonders markant sind die Regeln zur Unterscheidung der Geister, die Ignatius von Loyola aufgrund seiner eigenen Erfahrungen aufgestellt hat. Ignatius geht davon aus, dass Gottes Geist in jedem Menschen am Werk ist. Er drängt zum Leben, zur Liebe und zur schöpferischen Entfaltung all dessen, was im Menschen angelegt ist. Und: Er macht sich bemerkbar. Es ist menschenmöglich, ihn zu hören.

„Wenige Menschen ahnen,
was Gott aus ihnen machen würde,
wenn sie sich seiner Führung rückhaltlos anvertrauten“


(Ignatius von Loyola)
Das erfordert allerdings verschiedene Grundhaltungen. Eine davon ist die Bereitschaft, „nichts zu sehr zu wollen“. Ignatius nennt das „Indifferenz“. Das bedeutet, eigene Motive, Fixierungen, Vorlieben und Abneigungen zu erkennen und ihnen gegenüber immer freier zu werden. Nur in dieser Freiheit des Herzens ist es letztlich möglich, zu hören, was sein soll und die eigenen Ideen und Eingebungen nicht vorschnell für die Stimme Gottes zu halten. Salopp gesagt: „Nicht jeder Vogel ist schon der Heilige Geist“. Wer die Geister unterscheiden will, muss sich deshalb auch in eine Haltung der Aufmerksamkeit einüben. Und dies in dreifacher Hinsicht:

Aufmerksam für die Wirklichkeit

Ignatius legt großen Wert darauf, die Situation nüchtern zu analysieren, die zum Rahmen einer Entscheidung gehört und dabei auch das „Pro“ und „Contra“ abzuwägen. Hilfreich können auch Fragen sein wie z.B.: Ist die Entscheidung vernünftig, ist sie sittlich erlaubt? In welchem Zusammenhang zu meinem bisherigen Leben steht sie? Wie wirkt sie sich auf andere Menschen aus, vor allem auch auf die, mit denen ich verbunden bin?

Aufmerksam für das Evangelium

Für Ignatius kommt es bei der Unterscheidung der Geister wesentlich auch darauf an, ob etwas mit dem Evangelium in Einklang steht oder nicht. Ob es in Einklang steht mit dem Leben Jesu Christi, mit seiner Passion und mit seiner Auferstehung. Ob es deshalb auch dann Bestand hat, wenn etwas Schweres abverlangt wird und man sogar mit menschlichem Scheitern rechnen muss.

Aufmerksam für die inneren Regungen

Ganz zentral ist schließlich die Aufmerksamkeit darauf, welche inneren Regungen – Stimmungen, Gefühle – sich zeigen und vor allem: wohin sie führen. „An den Früchten“ ist zu erkennen, welche Wirkung etwas hat: in der äußeren Welt, aber eben auch in der  menschlichen Seele. Wo spüre ich langfristig mehr Freiheit, Gelassenheit, Freude und Hoffnung? Und wo macht mich etwas eher unruhig oder mutlos? Ignatius spricht hier von „Trost“ und „Misstrost“. Gemeint ist: Wo öffnet sich mein Herz zu mehr Glaube und zu mehr Hoffnung? Was stärkt meine Liebe?

Ob eine solche Trost-Erfahrung dann tatsächlich geistgewirkt ist oder nicht: Das zeigt sich für Ignatius nicht zuletzt auch daran, ob jemand zum Dialog mit der Gemeinschaft der Kirche bereit ist und sich gegebenenfalls kritisch hinterfragen lässt.
 
Wie kann man also die Nacht vom Tag unterscheiden, wie das Dunkel vom Licht? Die Geschichte aus den Erzählungen der Chassidim bringt auf den Punkt, worum es beim Thema „Unterscheidung der Geister“ geht – und worum nicht. Es ist weder eine Strategie zur Qualitätssicherung noch eine Anweisung für spirituell Hochbegabte. Es ist etwas für Menschen, die bereit sind, sich betend der Dynamik des Geistes Gottes auszusetzen. Es geht um den Weg des Alltags durch Tage und Nächte, durch helle und dunkle Stunden, es geht um Freundschaft und Feindschaft.

Es geht letztlich um gelebte Liebe. „Wenn ich mit den Augen der Liebe schaue, dann ist meine eigene Nacht zum Tag geworden“ (Willi Lambert SJ).
 
Annette Schleinzer
Fachbereich Pastoral
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Newsletter des Fachbereichs Pastoral in Kirche und Gesellschaft

im Bischöflichen Ordinariat Magdeburg

(Ausgabe Juni 2016)
Titelbild: © Bettina Albrecht
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