
„Durchkreuzte Hoffnung“
Brief des Bischofs von Magdeburg zur österlichen Bußzeit 2023
Liebe Schwestern und Brüder, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie den Begriff „letzte Generation“ hören? So bezeichnet sich ja eine Gruppe von zumeist jungen Menschen, die zurzeit unsere Gesellschaft mit Protestaktionen zum Umdenken und Handeln bewegen wollen. Um den verheerenden Klimawandel zu stoppen, fordern sie ein Ende der Lebensmittelverschwendung, einen Verzicht auf fossile Brennstoffe und eine umfassende Verkehrswende. „Letzte Generation“? Heißt das, dass „nach uns die Sintflut“ kommt und mit allem Schluss ist? Oder verbindet sich damit die Vorstellung, dass wir diejenigen sind, die noch das Schlimmste abwenden können? Auf jeden Fall macht sich verschiedentlich so etwas wie eine Endzeit- oder Weltuntergangsstimmung breit. Die Folgen der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, aber auch andere Katastrophen und Auseinandersetzungen verstärken das noch. Die Angst vor einem 3. Weltkrieg und dem Einsatz von Atomwaffen ist groß. Manche meinen sogar, dass man angesichts all dessen keinen Kindern mehr das Leben schenken könne oder solle. Interessanterweise habe ich ähnliche Äußerungen schon in meiner Studentenzeit vor etwa 50 Jahren gehört. Bereits damals erschienen Bücher mit Titeln wie „Das Selbstmordprogramm“ oder „Der tödliche Fortschritt“.[1] Vieles scheint wieder einmal zum Verzweifeln zu sein. „Es ist 5 vor oder sogar 5 nach 12“, wird manchmal gesagt, oder auch: „Der Letzte macht das Licht aus!“ Und im Hinblick auf die dramatische Entwicklung unserer Kirche bezeichnen einige in Deutschland inzwischen den „synodalen Weg“ mit seinen Reformbemühungen auch als „letzte Chance“.
Tatsächlich ist die Lage, in der wir uns befinden, sehr ernst. In vielem wäre eine radikale Umkehr dringend vonnöten. Das stelle ich überhaupt nicht in Zweifel. Aber – so wage ich aus christlicher Perspektive anzufragen – ist unsere Situation tatsächlich auch hoffnungslos? Haben wir nicht allen apokalyptischen Unkenrufen zum Trotz eine andere Verheißung und Vision? Mit Blick auf den Menschen zeichnet der heutige Lesungstext aus dem Buch Genesis (2,7-9; 3,1-7) ein sehr realistisches Bild. Dort wird von der – gewissermaßen – „ersten Generation“ berichtet. Gott erschafft am Beginn seines Wirkens den Menschen, als Teil der Schöpfung. Von ihr wird schon im Kapitel zuvor gesagt, dass sie insgesamt gut sei. Sie bringt Leben hervor und stellt bereit, was alle zum Leben brauchen. Als charakteristisch für den Menschen wird seine Lebendigkeit beschrieben: Gott „blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen 2,7) Aus seinem Innersten heraus strebt er danach, sein Leben sinnvoll zu gestalten und sich eine Zukunft aufzubauen.
Doch dann lässt sich schon diese „erste Generation“ dazu verführen, die für den Menschen vorgesehenen Grenzen zu überschreiten. Die Konsequenz davon ist die Entfremdung von Gott und sich selbst. Die Beziehungen zur ganzen Schöpfung werden immer fragwürdiger. Heutzutage sind unsere Ansprüche sogar so maßlos geworden, dass uns die Erde, auf der wir leben, nicht mehr ausreicht. Zurzeit verbrauchen wir Deutsche pro Jahr – im Bild ausgedrückt – fast drei Erden; weltweit gesehen sind es immerhin noch 1,74. Diese Erkenntnis und das Unheil, das die Zerstörung der Umwelt und unseres menschlichen Miteinanders mit sich gebracht hat, sollten uns am Beginn der österlichen Bußzeit anregen, wieder einmal neu zu bedenken, was es heißen könnte, schöpfungsgemäßer zu leben.
Dabei macht die Erzählung aus dem Paradies deutlich, dass die Möglichkeit zu einer Überwindung der Katastrophe nicht aus dem Wesen des Menschen abgeleitet werden kann.[2] Auch wenn er sich wünschte, wie Gott sein zu wollen, ist er niemals allein der Heilsbringer. Das steht ihm nicht zu, wäre anmaßend und würde ihn heillos überfordern. Was wir aber können und sollen, ist, uns in Freiheit unserer Verantwortung zu stellen und entsprechend zu handeln. Dazu regen auch andere Beispiele aus der biblischen Geschichte an, die zum Ausdruck bringen, wie Unwahrscheinliches über das Wahrscheinliche triumphieren kann. Da hören wir von Unrecht und Leid, von Lüge und Verrat, von Zerstörung und Tod, zugleich aber auch von denen, die all das zu erdulden hatten, die sich jedoch nicht entmutigen ließen und die letztlich sogar befreit und erlöst wurden oder daran mitgewirkt haben. Es sind Erzählungen, aus denen sich schöpfen lässt, in lichten wie in finsteren Zeiten. Zu ihnen gehört z.B. der Bericht vom Auszug der Israeliten aus Ägypten. Gegen alle Erwartung – so überliefert es die Tradition – gelingt dem unterdrückten Volk Israel die Flucht aus der Knechtschaft. Inmitten des Unheils geschieht Heil, führt Gott sein Volk in die Freiheit. Ähnlich ergeht es auch Noah, der mit seiner Familie und vielen Tieren in einer Arche – einem schwimmfähigen Kasten – die große Flut überlebt. Seitdem ist der Regenbogen, den er bei seiner Rettung sieht, ein Hoffnungszeichen dafür, dass Gott niemanden ganz verlässt. Daran zu erinnern, solche Erfahrungen von Generation zu Generation weiterzugeben, regt an und macht Mut, vertrauensvoller zu leben und sich mit seinen Gaben und Fähigkeiten einzubringen. Ebenso ist es mit den beeindruckenden Erzählungen und der österlichen Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi.
Es gibt also durchaus Gründe, sich nicht mit dem abzufinden, wie es ist und angeblich so bleiben oder aber zugrunde gehen wird. An das Unglaubliche zu glauben, ist auch in unserer Zeit möglich. Ja, wir brauchen über unsere gewöhnlichen Vorstellungen hinaus sogar eine Hoffnung, die unseren Horizont übersteigt. Denn nur so kann auch wirklich Veränderung geschehen, kann Unfreiheit und Knechtschaft überwunden und unser bisweilen enger Horizont überschritten werden. Nur so werden wir auch motiviert sein, uns kreativ für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen und nicht zu resignieren oder zu verbittern.
Dabei leugnet die christliche Hoffnung nicht den katastrophalen Zustand, in der sich die Welt befindet. Sie spielt sich auch nicht auf, als ob sie über den Geschehnissen steht. Christlicher Hoffnung liegt es fern, die Katastrophen zu verharmlosen oder die Augen vor der Realität zu verschließen. Aber sie stimmt auch nicht in den Untergangsgesang derer ein, die die Welt schon als verloren ansehen. Deshalb bezeichnet der Theologe Markus Vogt die christliche Hoffnung auch als eine „durchkreuzte Hoffnung“. „Diese weiß um die Gefährdung des Menschlichen und vertraut zugleich auf die Möglichkeit neuer Anfänge, die Gott, der auch am Kreuz noch Gott geblieben ist und so über Scheitern, Leid und Katastrophe hinausweist, zu schenken vermag.“[3]
Liebe Schwestern und Brüder, ohne Hoffnung wäre unsere Existenz trostlos, könnten wir nicht sinnvoll leben. Aber sie fällt uns auch nicht einfach so in den Schoß. Oftmals erweist sie sich nur als ein kleiner Funken, den es zu schützen und zu nähren gilt. Dazu braucht es auch Vertrauen, Wachsamkeit und Geduld. Geduld aber – so habe ich einmal gelesen – sei „der Abstand zwischen Vision und Vernunft“ oder „das Ausdauertraining für die Hoffnung“. Mit anderen Worten wird eine solche Haltung auch im 2. Brief an Timotheus beschrieben, wo es heißt (1,7): „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit geschenkt, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ In diesem Sinn wünsche ich uns allen eine anregende österliche Bußzeit. Hilfreich dazu könnte auch das Gebet von Reinhold Niebuhr sein: „Herr gib mir Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Geben wir auf jeden Fall nicht auf und verlieren wir nicht die Zuversicht! Trauen wir der Botschaft von Ostern, dass das Leben stärker ist als der Tod und auch wir auf Vollendung hoffen dürfen.
Dazu erbitte ich uns allen den Segen des allmächtigen und barmherzigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Magdeburg, am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit 2023
Ihr Bischof
+ Gerhard Feige
Fastenhirtenbrief zum Download
[1] Gordon Rattray Taylor, Das Selbstmordprogramm. Zukunft oder Untergang der Menschheit, Frankfurt am Main 1973; Eugen Drewermann, Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums, Regensburg 1981.
[2] Vgl. Markus Vogt, Wandel als Chance oder als Katastrophe, München/Grünwald 2018, 49.
[3] A.a.O. 62.