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Bischof zum 9. November: der Freiheit in den Herzen Raum geben

Ein Tag zum Nach-Denken

Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein denkwürdiges Datum. Er erinnert an die schrecklichen Jahre des Ersten Weltkrieges, in dessen Folge die bis dahin selbstverständliche Monarchie in Deutschland von der Bühne der Weltgeschichte verschwand. Nichts war mehr so wie vorher, als Karl Liebknecht am 9. November1918 vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die "freie sozialistische Republik" ausrief.

Zwanzig Jahre später wurde deutlich, welche menschenverachtende Diktatur in Deutschland die Macht ergriffen hatte. Die brennenden Synagogen und zerstörten jüdischen Geschäfte der Reichspogromnacht 1938 kündeten den millionenfachen schrecklichen Leidensweg der Juden Europas an, der von Deutschland aus mit dem Zweiten Weltkrieg in die Länder des Kontinentes getragen wurde.

Am 9. November denken heutzutage Menschen in ganz Deutschland aber auch an jenen Abend des Jahres 1989 zurück, als völlig überraschend die Mauer in Berlin ihre menschenfeindliche Funktion verlor. Ich denke an die mit Freudentränen überströmten Gesichter von Menschen, die es nicht fassen konnten, dass sie etwas miterleben durften, was sie nicht zu träumen gewagt hatten. Das Wort jener Stunde war "Freiheit". Das Gefühl jener Stunde war "Freiheit". Die Perspektive aus jener Stunde hieß "Freiheit".

Erinnerung - Brücke zum Verständnis der  Träume von Gestern

Erinnern wir uns: Die meisten Menschen im Osten Deutschlands litten unter der Diktatur. Alle spürten, wie verlogen dieses System war und dass der "antiimperialistische Schutzwall" letztlich nichts anderes war als ein "eiserner Vorhang", der Welten trennen sollte. Wir wissen, dass die Medien, Schriftsteller und Künstler unter staatlicher Zensur arbeiteten, dass eine ganze Volkswirtschaft ideologisch dirigiert und dem individuellen wirtschaftlichen Engagement von Menschen die Basis entzogen wurde. Wir wissen auch, dass es im sozialistischen Alltag nur eine Weltanschauung geben durfte. In den Schulen und an den Universitäten waren Meinungs- und Gewissensfreiheit Fremdworte.

Viele Menschen belastete dieses so sehr, dass sie ausbrechen oder ausreisen wollten. Sie mussten erfahren, dass die Mauer ihnen galt. Viele DDR-Bürger träumten von einem anderen Leben mit mehr Handlungsmöglichkeiten, einer größeren Freiheit und sicherlich auch größerem materiellen Wohlstand.

Als in den Herbsttagen 1989 tausende Arbeiter und Bauern auf abenteuerlichen Wegen den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden verließen, war es um die Macht der Partei der Arbeiterklasse geschehen, zumal die weltpolitsche Konstellation keine Panzer auf den Alexanderplatz oder vor der Leipziger Nicolaikirche gestattete. Mit den Ereignissen der Wende wurden wir in die Freiheit entlassen, vielleicht auch ohne genau zu wissen, welche Anforderungen diese mit sich bringen würde.

Enttäuschte Hoffnung - falsche Hoffnung?

Heute - nach zwölf Jahren - scheinen viele Menschen im Osten Deutschlands von dieser Freiheit enttäuscht zu sein. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, wie viel Gutes schon erreicht und wie viel Gutes auf den Weg gebracht wurde, das einer weiteren gemeinsamen Anstrengung Wert ist.

Kommunismus und dialektischer Materialismus traten einst mit der Verheißung an, das Patentrezept für das vollkommene menschliche Miteinander mit den Mitteln der "Diktatur des Proletariates" durchsetzen zu können. Das Resultat waren ideologischer Zwang und Schönrederei maroder Zustände.

Heute erfahren wir in der freiheitlich demokratischen Gesellschaft, dass diese sich in viel größerem Maß, kritisch hinterfragen lässt. Der oft komplizierte und langwierige Prozess demo-kratischer Meinungsbildung wird dabei von manchem als ineffektiv angesehen, auch. werden Schwächen des Systems gnadenlos ausgenutzt. Vergessen wird dabei jedoch, dass eine demokratische Gesellschaft wesentlich vom verantwortlichen Handeln ihrer Mitglieder abhängt. So scheinen die Risiken einer solchen Gesellschaftsordnung mitunter größer zu sein als deren Chancen. Das mag immer noch viele Menschen verunsichern.

Freiheit neu bedenken

Angesichts der Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet, ist es an der Zeit, neu und ernsthaft über die Bedeutung des Wortes Freiheit auf breitester Ebene nachzudenken und ein alltagstaugliches, an unverzichtbaren Werten orientiertes Freiheitsdenken zu fördern.

Das Wort "Freiheit" klingt in den Ohren der meisten Menschen wie ein Zauberwort, es verheißt fast alles. Doch was ist darunter zu verstehen? Unterschiedlichste Auffassungen begegnen uns im Lauf der Geschichte. "Freiheit" als Begriff ist stets eingebunden in die jeweiligen persönlichen Erfahrungen und Sehnsüchte konkreter Menschen: Während ehemaligen DDR-Bürgern das stets verkürzt wiedergegebene Hegelsche Wort von der "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit" aus dem Schulunterricht noch in Erinnerung ist, wird den meisten das Zitat Rosa Luxemburgs, dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sei, weniger geläufig sein. In unserem Alltag verstehen viele die Freiheit eher als "da kann ich machen was ich will" oder auch voller Resignation, als den "Abstand zwischen Jäger und Gejagtem". Was aber macht die Freiheit so wertvoll, dass ohne sie keine humane Gesellschaft denkbar ist?

Freiheit als menschliches Prinzip

Die biblischen Schriften behandeln Freiheit nicht als philosphischen oder ökonomischen Begriff, sondern als Gottes befreiendes Handeln. Freiheit hat ihren Ursprung so gesehen nicht im menschlichen Nachdenken und Handeln. Christliches Denken sieht es diesem enthoben und in Gottes Willen selbst verankert. Gott stattet den Menschen mit der Freiheit aus, Gutes und Böses erkennen und daraus entsprechend handeln zu können. In erlebter Freiheit teilt sich Gott dem Menschen mit. Er nimmt jeden Menschen ganz und gar ernst. Diese Rückbindung an Gott ist Grundlage jeglichen Freiheitsgedankens aus christlicher Sicht Freiheit heißt darum nicht, "machen können und dürfen, was ich will", sondern bewusst verantwortlich handeln. Freiheit und Verantwortung lassen sich nur gemeinsam betrachten. Und diese Verantwortung - diese verwirklichte Freiheit - wird erlebbar in der Beziehung zum Mitmenschen, zum Nächsten.

"Frei werden" hat mit "Erlöst sein" zu tun, erlöst von eigenen Zwängen und Ängsten, von der Angst, ja nichts in diesem Leben zu verpassen, sich ständig einem Leistungsdruck unterwerfen zu müssen, abhängig zu sein von der Diktatur des "man" und von der Sorge, immer und überall "gut ankommen" zu müssen. Daraus erwächst die Verantwortung für das eigene Tun und der Respekt vor dem anderen Menschen. So verhilft die Freiheit dem Menschen zu seiner Würde, die sich dem Zweckdenken oder ideologischen Irrlehren entzieht. Die Goldene Regel im Matthäusevangelium bringt es auf den Punkt: "Alles, was ihr also von anderen er-wartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten." (Mt 7,12)

Freiheit als Chance begreifen

Stets kommt es darauf an, Freiheit als Chance und als Aufgabe wahrzunehmen. Losgelöst von anderen Werten bleibt von ihr nicht mehr übrig als eine hohle Phrase, ein Schlagwort oder ei-ne Schutzbehauptung. Der Mauerfall vor zwölf Jahren ist ständig Anlass, über die Gestaltung unseres menschlichen Miteinanders, über unverzichtbare gemeinsame Wertvorstellungen und Handlungsmaximen nachzudenken.

Aber auch die Schatten der Ereignisse des 11. September in New York sind noch längst nicht von uns gewichen. Die zerborstenen Türme des World Trade Centers stehen auch dafür, dass unsere oft als so selbstverständlich sicher geltende westliche Welt des Wohlstands mit all ihren Möglichkeiten aber auch Ungerechtigkeiten und Unwägbarkeiten weitaus gefährdeter ist als wir dachten.

Fragen werden plötzlich ganz neu gestellt: Was bedeutet es für den Einzelnen, die Freiheit als Chance und Aufgabe zu verstehen? Für welche Freiheit sollen Soldaten kämpfen: für jene Freiheit, soviel wie möglich in diesem eigenen kurzen Menschenleben konsumieren zu dürfen, ohne Rücksicht und Verluste, oder vielleicht für eine große Freiheit von allem, was dem Menschen als Norm und Richtschnur dienen sollte?

Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft, das in der Freiheit des Menschen vorhandene Handlungs- und Gestaltungspotential zu respektieren und in einem Prozess des beständigen Dialogs das Bewusstsein für den Wert dieser Freiheit zu fördern. Wo auf längere Zeit ein derartiger, ernsthafter Dialog unterbleibt, verliert sich der Freiheitsbegriff entweder in einer diffusen Beliebigkeit oder das freie selbstverantwortliche Handeln des Menschen wird nur noch nach seinen Risiken beurteilt und ängstlich abgelehnt. Das aber ebnet den Weg für Ideologen jeglicher Richtung.

In unserer Gesellschaft scheint es zuweilen an dieser Dialogbereitschaft zu fehlen. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern bedarf es aber einer Verinnerlichung und Vertiefung dieses Gedankens vom Wert der Freiheit in der heutigen gesellschaftlichen Situation.

Die Herausforderung der Freiheit annehmen

Konkret bedeutet die Wertschätzung von Freiheit zunächst, dass der Einsatz für sie nicht als lästige Verpflichtung gesehen wird, sondern als eine positive Herausforderung. Unterschiedliche Aufgabenfelder machen diese Herausforderung deutlich:

- bewährte Formen der Freiheit verantwortlich wahrnehmen

Die längst selbstverständliche Freiheit des Einzelnen wie Reisefreiheit, Gestaltungsfreiheit, Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung nimmt ein großer Teil unserer Gesellschaft für sich in Anspruch, ohne die Frage zu stellen, wie würde unser Leben aussehen, wenn es diese Freiheit nicht gäbe. Auch gilt es hier, mit den Auswirkungen der Freiheit zurechtzukommen. Man kann eben niemanden zwingen, in einer Region zu leben, die strukturschwach und perspektivlos erscheint. Die Herausforderung besteht dann darin, das Umfeld mit seinem ökonomischen, sozialen, kulturellen, ökologischen und auch seinem religiösen Gehalt so zu gestalten, dass attraktive Lebensräume entstehen.

- die Würde jedes Menschen achten und eigene Grenzen respektieren

Der wissenschaftlich-technische Standard unserer Zivlisation stellt Fragen nach dem Leben in ganz neuen und existenziellen Zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund droht ein Verlust der Freiheit von schwachen Gliedern der Gesellschaft. Freiheit wird zu einer Freiheit der Stärkeren, der besser Redenden, der Reichen, wenn Menschen der beliebigen Verfügung anderer Menschen unterliegen, wenn Menschen über andere - zumeist ungeborene - Menschen befinden, ob deren Leben lebenswert und ihnen oder Dritten zumutbar sei, wenn ungeachtet eines enormen medizinisch technischen Aufwandes gleichsam "das Recht auf ein Kind" durchgesetzt werden soll und wenn man schließlich danach strebt, den Umgang mit Sterben und Tod zwischen intensivmedizinischer Lebensverlängerung und "Sterbehilfe" als Problem aus dem Alltagsleben der Menschen auszublenden. Hier sind dem Menschen ethische Grenzen gesetzt, die er klar erkennen und respektieren muss.

- Freiheit des ökonomischen Handelns ist kein Selbstzweck

Ökonomisches Handeln ohne ethisches Selbstregulativ wuchert zum hemmungslosen Ausbeutungsdenken. Die weltweite Situation der Ungleichverteilung der Güter produziert Unfreiheit und politisch-ökonomische Abhängigkeiten. Es besteht die Herausforderung, erforderliches Wachstum im Zusammenhang mit gerechten Verteilungsstrukturen und fairen Leistungsparametern zu sehen. Gewinnmaximierung als einziges Kriterium bei wirtschaftlichen Entscheidungen führt zu einer "kalten" Gesellschaft. Kräfte des sozialen Ausgleichs und der Solidarisierung mit Benachteiligten müssen in diesen Entscheidungsprozessen mehr Berücksichtigung finden. Andererseits muss auch bei dauerhaft erwerbslosen Menschen die Suche nach dem eigenen Lebenssinn und Anerkennung ernst genommen und unterstützt werden.

- Die Freiheit und Verantwortung von Familien schützen und respektieren

Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft und Lernort sozialen Zusammenlebens. Daher bedarf sie des im Grundgesetz verbürgten besonderen Schutzes der Gesellschaft. Tendenzen sozial-, bildungs- und familienpolitischer Entscheidungen scheinen eine verminderte Wertschätzung, ja eine inflationäre Entwicklung, einen Ausverkauf von Ehe und Familie erkennen zu lassen. Gesellschaftliche Verantwortung wird jedoch dort missverstanden und zur Bevormundung, wenn für ein gedeihliches Familienleben notwendige Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten durch Normen und staatliche Hoheitsakte beschränkt werden.

Statt den Handlungsraum von Familien einzuengen, sollten Familien intensiver durch geeignete aber freiwillig wahrnehmbare Angebote gefördert werden. Arbeit und Einsatz für die Familie bedürfen darüber hinaus einer stärkeren gesellschaftlichen Anerkennung. Geeignete Wege der Unterstützung des gemeinsamen Lebensraumes Familie - Arbeit - Schule müssen gefunden werden.

Der Grundstein: In Freiheit verbindlich und verlässlich sein

Die größte Herausforderung der Freiheit an den einzelnen Menschen stellt nicht die möglichst vielfältige Wahrnehmung beliebiger Entscheidungsspielräume dar, wie es uns permanent eine schillernde Werbe- und Konsumwelt vorgaukelt, sondern die verbindliche Entscheidung auf Grund eines voran gegangenen Klärungsprozesses zu einem individuellen und verantworteten Lebensplan.

Ohne eine verbindliche und letzten Endes verlässliche Entscheidung einzelner Menschen und Gruppen ist ein soziales Miteinander undenkbar. In keiner Weise bedeutet das eine Einschränkung der Freiheit. Vielmehr ermöglicht der bewusste Schritt zur Verbindlichkeit ein freies Handeln ohne die ständige Angst, getroffene Übereinkünfte könnten ihre Gültigkeit einbüßen. Besonders auf der Ebene personaler Begegnung und Gemeinschaft ist diese Bindungsfähigkeit und Verlässlichkeit ein unverzichtbarer Wert.

Der beste Weg heraus aus Isolation und Einsamkeit ist ein gemeinsam gewagter Lebensweg von Menschen, die sich lieben und schätzen gelernt haben. Nach dem Verständnis des Evangeliums ist dieser Weg stets ein Weg in der Gemeinschaft mit Gott, auf dessen menschenfreundliches Ja wir uns immer wieder verlassen können. Die Kirche möchte Menschen immer wieder dazu ermutigen, sich auf diese Bindung einzulassen, Vertrauen zu wagen und einer so verantworteten Freiheit in ihren Herzen Raum zu geben.

Auf diese grundlegend positive Verfasstheit unserer Welt aufmerksam zu machen und damit zum Leben in einer gewagten Freiheit zu ermutigen - auch darin sieht die Katholische Kirche ihren Beitrag zur Kultur eines gelingenden Miteinanders.


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