Weihbischof: Wo haben wir eigentlich vor dem 11. September gelebt?
(Predigt zum Pastoraltag am 19. September in Magdeburg)
Wer mich kennt, weiss, dass ich kein emotionsloser Rohling bin. Dennoch fällt es mir bis heute immer noch nicht leicht, manche Reaktionen auf die grauenvollen Ereignisse in Amerika so richtig nachzuvollziehen und zu verstehen.
In was für einer Welt hat man eigentlich davor gelebt? Das war doch nicht das Paradies!
Schon in meiner Kindheit habe ich vom Krieg geträumt, obwohl ich Jahre danach erst geboren wurde. Offenbar haben meine Eltern noch soviel davon erzählt, um es zu verarbeiten.
Dann folgten die Zeiten des sog. Kalten Krieges mit Aufrüstung, atomarer Abschreckung und manchen dramatischen Krisen, in denen der Friede auf Messers Schneide stand.
Auch nach der Wende setzte keine Ruhe ein. Golf- und Balkankrieg erschütterten nicht nur die betroffenen Regionen, Hutus und Tutsis metzelten sich nieder, terroristische Anschläge und Entführungen hielten viele in Atem.
Und auch in Deutschland gab es Misshandlungen, Vergewaltigungen, Überfälle, Mord und Totschlag.
Wer will, kann sich jeden Tag per Fernbedienung oder Mausklick eine Fülle unvorstellbarer Grausamkeiten ins Wohnzimmer holen.
Wieso sind da nach dem 11. September dieses Jahres auf einmal so viele Menschen derart erschüttert, fassungslos und verängstigt, wie kaum jemals zuvor?
Unzählige ließen ihren Tränen freien Lauf. Abertausende brannten Kerzen an, legten Blumen nieder oder versammelten sich in Kirchen. Veranstaltungen wurden abgesagt oder mit Schweigeminuten versehen. Und der MDR stellte eine besinnliche Unterhaltungssendung mit Carmen Nebel und dunkel gekleideten Interpreten (am 14.09.01) unter den Titel: "Nichts ist mehr so wie es war!"
Was hat unseren Nerv eigentlich so getroffen?
Ist es die Häufigkeit, mit der wir tagelang im Fernsehen die beiden New Yorker Türme immer wieder haben zusammenbrechen sehen? Ist es das Übermaß an Toten und menschlichem Leid, das uns unter die Haut geht?
Ist es die Erkenntnis, dass es nirgendwo absolute Sicherheit gibt und auch Super-mächte unheimlich verwundbar sind, dass es jeden einzelnen von uns jederzeit treffen könnte? Ist es die Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens und des Menschen?
Wie sagte doch einer der Kommentatoren dieser Tage: "Der Mensch ist die Bombe, die entschärft werden muss."
Lässt eine "Spaßgesellschaft" sich offenbar nur durch ein solch gewaltiges Grauen erschüttern und viele wieder zur Besinnung bringen? Lehrt Not - wie es heisst - tatsächlich wieder einmal beten? Und wie lange?
Manche Trendforscher prognostizieren bereits einen Abschied von der Oberflächlichkeit. Andererseits rufen Politiker aber auch schon wieder auf, zur Normalität zurückzukehren und - wie gestern unser Bundeskanzler auf der Frankfurter Automesse - das Konsumverhalten trotz der Terroranschläge nicht zu verändern.
In dieser Stimmungslage haben wir uns heute zum Pastoraltag versammelt, um über die Zukunft unseres Bistums in einer offenen Gesellschaft nachzudenken. Dabei kann es nicht nur um gediegene Analysen, strukturelle Erkenntnisse und geschickte Methoden gehen. Darum sind wir auch zuerst hier in der Kirche, um uns durch das Wort Gottes und die Feier der Eucharistie (d. h. des Todes und der Auferstehung Jesu Christi) herausfordern und stärken zu lassen. Welche Impulse können uns die heutigen biblischen Texte ganz persönlich mit auf den Weg geben?
Das Böse ernstnehmen
Bei Firmungen frage ich immer wieder: "Widersagt ihr dem Satan und all seiner Verführung?" oder anders formuliert:
"Widersagt ihr dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können?"
Ich habe manchmal schon überlegt, was den jungen Leuten, die da vor mir stehen, wohl bei einer solchen Frage durch den Kopf gehen mag? Wirkt eine Rede vom Bösen in unserer aufgeklärten Welt nicht verstaubt und antiquiert, ja geradezu lächerlich? Spätestens seit dem 11. September ist es wieder im Bewusstsein, dass es nicht nur gute Menschen gibt. Manchmal nimmt das Böse durch unseren Willen und unser Handeln Gestalt an - sind wir seine Vollstrecker. Manchmal kommen wir uns aber auch als Opfer böser "Mächte und Gewalten" vor. Seit einigen Tagen spricht man wieder von der grundsätzlichen Anfälligkeit jedes Menschen zum Bösen, ja sogar von der Erbsünde.
Uns Christen geht es nicht darum, den Menschen schlecht zu machen, jemanden zu verteufeln oder sich auf das Böse zu fixieren. Als Realisten sollten wir aber mit diesem Phänomen in und um uns rechnen, es ernstnehmen, dagegen angehen und Gott unablässig darum bitten, uns davon zu erretten. Im Bild des Evangeliums gesprochen bleibt die Situation angespannt: Es gibt nicht nur den oder die guten Hirten; es gibt auch weiterhin Diebe und Räuber, die nur kommen, "um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten." Ihnen und möglichen Wölfen gilt es zu wehren. Bleiben wir aufmerksam! Lassen wir uns nicht einschläfern, täuschen, verführen oder ängstigen!
Das Gute fördern
"Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben", so fasst der Gute Hirt im Johannesevangelium seinen Auftrag zusammen. Als der Hirtensorge Jesu Christi Vertrauende und Verpflichtete sollten auch wir das zum Leitwort unseres Lebens und Handelns machen. Der gute Hirt "ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen", und sie "hören auf seine Stimme".
In einer Zeit, in der sich einerseits Individualismus, Subjektivismus und Liberalismus steigern, andererseits aber die Vermassung wächst und den einzelnen untergehen oder zu einer Nummer werden lässt, ist es besonders wohltuend, bekannt zu sein und beim Namen gerufen zu werden.
Gott ruft jeden Menschen ins Leben; jeder ist als sein Ebenbild gedacht, auch der noch nicht voll entwickelte Embryo und der dahinsiechende Greis; sogar die Haare eines jeden sollen gezählt sein. Dies gilt es für uns zu verinnerlichen und umzusetzen: den anderen in seiner Individualität und Gottebenbildlichkeit zu schätzen, ihn beim Namen zu rufen, ein Herz für ihn zu haben und vielleicht sogar Christus selbst in ihm zu sehen.
Sagt dieser nicht auch: "Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan"? Ich höre manchmal klagen, dass Gemeinden kleiner werden und verschiedene Kreise nicht mehr existieren; zugleich höre ich aber auch, dass individuelle und zweckfreie Hausbesuche in unserer Seelsorge Gefahr laufen, ein Fremdwort zu werden. Der gute Hirt geht auch dem einzelnen Schaf nach. Das sollten wir nicht als überholt oder ineffektiv abtun.
Und noch ein Aspekt könnte uns anregen. Wie groß ist unter uns Menschen doch die Sehnsucht nach Leben: nicht nur dahin zu vegetieren, sondern Erfüllung zu finden. Der Mensch ist ein einziger Schrei nach Leben. Und doch: Wie viele können sich nicht entfalten und verkümmern statt dessen, werden bitter und sind schon zu Lebzeiten tot.
Der gute Hirt führt die Schafe aus dem Stall hinaus, er geht ihnen voran und erschließt ihnen neue und qualitativ bessere Lebensräume. Auch das ist in der Seelsorge wichtig: Türen zu öffnen und gemeinsam neue Erfahrungen zu machen.
Das den Anhängern Jesu verheißene Leben in Fülle begreift man weniger durch Katechismen als durch lebendige Nachfolge in der Gemeinschaft von Glaubenden.
Wie dankbar bin ich doch, das in meinem Leben schon oft und vielfältig erfahren zu haben. Gerade in unserer Situation sollten wir uns darum bemühen, Suchende nicht allein zu lassen, sondern ihnen christliche Lebensräume zu erschließen, damit sie auch erfahren können, was es bedeutet, Gott und den Nächsten zu lieben, mit Christus zu sterben und mit ihm zu leben, keine Gewalt anzuwenden und Frieden zu stiften, ein reines Herz zu haben und barmherzig zu sein - ja, wie reich uns unser Glaube machen kann.
Das ewige Leben erhoffen
Bei all dem wissen wir aber auch, dass wir noch nicht den Himmel auf Erden haben. Noch ist das Ende der Tage nicht angebrochen. Noch strömen nicht alle Völker zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Noch schmieden nicht alle Krieger aus ihren Schwertern Pflugscharen und aus ihren Lanzen Winzermesser. Noch scheint das alles - was schon der Prophet Micha verheißt - Zukunftsvision zu sein. Die Realität lässt uns eher daran verzweifeln.
Aber manchmal bricht doch der Himmel auf und lässt uns leichter glauben, dass dies eines Tages tatsächlich Wirklichkeit werden könnte. Die gewaltlose Wende in unserem Land, der Fall der Mauer oder die "samtene" Revolution in der Tschechoslowakei: "Da waren wir alle wie Träumende! Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel." Da konnten wir sagen: Der Herr hat an uns Großes getan. Da waren wir fröhlich.
Und diese himmlischen Einbrüche machen uns Mut, nicht an Gott, der Welt und den Menschen zu verzweifeln. Sie lassen uns hoffen, dass der neue Himmel und die neue Erde kommen werden, wo es weder Krieg noch Terror, weder Tod noch Trauer gibt, und Gott jede Träne aus unseren Augen wischt. Wir sind nicht dazu verdammt, das Paradies auf Erden verwirklichen zu müssen. Der Glaube an eine Zukunft, die Gott uns bereitet, entkrampft, verleiht uns aber auch die Einsicht und Kraft, das Böse in der Welt nicht untätig hinzunehmen und sich für ein Leben in Fülle zu engagieren.
Herr - so beten wir dabei - lass uns nicht mutlos werden und verbittern, nimm von uns alle Lähmung und Resignation, richte uns immer wieder auf und stärke uns in der Hoffnung und Zuversicht auf deinen Sieg über alle todbringenden Mächte und Gewalten und auf das ewige Leben. Amen.
Gerhard Feige
Weihbischof
link