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Die eigene Mensch-Werdung voran treiben

Predigt von Bischof Gerhard Feige zur Christnacht

Bischof Gerhard predigt in der KathedraleWas ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Diese Frage treibt Menschen schon seit Jahrtausenden um und wird immer wieder sehr unterschiedlich zu beantworten versucht:
Ein genetisches Zufallsprodukt - oder ein bewusst hervorgebrachtes Geschöpf?
Eine gesichtslose Nummer - oder ein unverwechselbares Original?
Das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse - oder ein selbst bestimmtes Individuum?
Ein einsamer „Robinson Crusoe" - oder ein kollektives Herdentier?
Ein willenloser Sklave - oder ein „Münchhausen", der sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht?
„Des Menschen Wolf" - oder inniger Freund?
Satan oder Engel?
Vielleicht aber am Ende einfach auch nur sich selbst ein Rätsel?
Man könnte aber auch noch direkter fragen: Wer bin ich eigentlich, wenn ich die vielen Masken ablege, hinter denen ich mich verstecke? Wozu bin ich da? Wofür arbeite und schufte ich? Was bleibt am Ende"? Was ist der Sinn des menschlichen Daseins?

Eingebunden in einen natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen sind wir der Vergänglichkeit unterworfen. Wir werden geboren, wachsen heran, entwickeln uns, altern und sterben. Das sind normalerweise die Bedingungen, die wir Menschen mit allem Lebendigen teilen. Und gleichzeitig ist in unserem Herzen eine unausrottbare Sehnsucht nach mehr, nach etwas Größerem, nach Sinn, nach Liebe, nach unbegrenzter Zukunft. Diese Sehnsucht lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Elend und Größe, Macht und Ohnmacht sind die Pole, in denen sich diese Suche immer wieder bewegt.

Auch die Bibel sieht den Menschen ganz realistisch in einer solchen Spannung. „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du seiner dich annimmst?", so wird voller Staunen schon in einem der alten Psalmen gefragt; und weiterhin heißt es da auf einen Schöpfer bezogen: „Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt"(Ps 8, 5). In anderen Psalmen ist aber auch ganz klar und nüchtern formuliert: „Wir sind nur Staub. Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr"(Ps 103, 14-16.) Oder:Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde" (Ps 104,29).

Das ist der Mensch in biblischer Sicht: fast Gott gleich, dessen Meisterwerk, ja sogar Ebenbild, auserwählt und begabt wie kein anderes Wesen, und doch auch vergänglicher Staub. Der Mensch: ein unauslotbares Geheimnis. Er gleicht einem funkelnden Eiskristall am Fenster: „Außergewöhnlich komplex und atemberaubend schön - im nächsten Moment jedoch bereits wieder aufgelöst ins ‚scheinbare' Nichts".

Das ist die Realität, der wir uns immer wieder stellen müssen.

Gott wird Mensch

Aber ist das alles? Was hat es mit unserer Sehnsucht auf sich, der Sehnsucht danach, geliebt zu werden als das unverwechselbare Wesen, das jeder und jede ist, geliebt zu werden mit seinen Fehlern und Schwächen, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen? Die Psychologen und Philosophen sagen es uns schon lange: ein Kind kann letztlich nur wachsen und gedeihen, wenn es geliebt wird. Oder, wie Martin Buber es einmal formuliert hat: „Der Mensch wird zum Ich nur durch das Du".

In der Tat, an Weihnachten wird besonders deutlich, wie wir auf Beziehungen ausgerichtet sind und Gemeinschaft suchen. Aber auch sonst merken wir heute deutlicher als früher, dass wir alle in einem Boot sitzen. Die ganze Menschheit bildet eine große Schicksalsgemeinschaft. Es gibt eine große Solidarität in der Schuld und in der Hoffnung. In diese Solidarität ist Gott durch Jesus Christus eingetreten, als kleines Kind unter armseligen Verhältnissen. Das feiern wir an Weihnachten. Durch Gottes Menschwerdung ist Jesus Christus unser aller Artgenosse, Mitmensch und Bruder geworden. Er teilt all unsere Bedingungen, unser Menschsein von der Wiege bis zur Bahre, unsere Freuden und Schmerzen, Geburt und Tod, ja sogar die Gnadenlosigkeit einer gewaltsamen und ungerechten Hinrichtung. Weihnachten ist ein Fest, bei dem es um alle Menschen geht, ja sogar um die ganze Schöpfung. Gott ist für alle und für alles Mensch geworden, er hat sich in diese ganze Welt hinein gegeben. Nichts und niemand kann seither mehr aus seiner Hand heraus fallen. Ob Christ oder Nichtchrist, schwarz oder weiß, Mann oder Frau, arm oder reich: jeder und jede ist unwiderruflich von Gott gewollt und angenommen.

Die Botschaft von Weihnachten heißt dann: Wir sind nie mehr allein. Was auch immer geschieht: Da ist einer in unserer Nähe, der weiß, was den Menschen ausmacht. „Ich bin da", sagt er, wenn wir uns selbst ein Rätsel sind. „Ich bin da", sagt er, wenn wir uns freuen, auch, wenn wir Angst haben und einsam sind, und sogar, wenn wir schließlich dem Sterben und dem Tod ins Auge sehen müssen.

Unsere Sehnsucht nach dem Du läuft nicht ins Leere. Da ist jemand, der mich als einzelnen Menschen gewollt und ins Dasein gerufen hat, einer, der mich in seinen Händen hält. Darin liegt die Quintessenz des christlichen Menschenbildes: der Mensch ist, so wie er ist, von Gott zutiefst geliebt. Über alle Spannungen hinaus, die den Menschen ausmachen, ja auch über alle Schuld hinaus, in die er sich immer wieder verstrickt, gilt dieses Wort der Liebe. „Ich werde geliebt, also bin ich" - das ist vielleicht das Tiefste, was wir aus dem Glauben heraus über uns Menschen aussagen können.

Werde auch du Mensch!

Aber auch das ist noch nicht alles. Wer sich so erfährt, ist auch herausgefordert. Konrad Lorenz, ein berühmter Verhaltensforscher des letzten Jahrhunderts, hat einmal kritisch bemerkt: „Wenn ich den Menschen für das endgültige Ebenbild Gottes halten müsste, würde ich an Gott irrewerden ... (Ich) ... behaupte ... bescheidener und wie ich glaube in größerer Ehrfurcht vor der Schöpfung und ihren unerschöpflichen Möglichkeiten: das lange gesuchte Zwischenglied zwischen dem Tiere und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir." Tatsächlich kann man oftmals darüber erschrecken, wozu Menschen nach wie vor fähig sind, welches Unheil sie über sich und andere bringen können, auf banale oder dramatische Weise, bewusst oder unbewusst, durch Egoismus und Neid, Lug und Trug, Hass und Gewalt. „Selbst im gütigsten Herzen" hält sich - wie Alexander Solschenizyn einmal formuliert - „ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen".

Wir sind uns selbst zur Aufgabe gegeben und haben ein Leben lang die Chance, immer noch mehr Mensch zu werden: vernünftiger und liebevoller, gerechter und barmherziger, selbstloser und aufgeschlossener. Weihnachten könnte da für uns ein guter Impuls sein, sich dessen wieder deutlicher bewusst zu werden. So ruft uns Angelus Silesius, ein Dichter des 17. Jahrhunderts, auch in diesem Zusammenhang zu: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren!" Gott will auch in uns und durch uns in der Welt ankommen. Seine Liebe, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist, kann uns eigentlich nicht unverändert lassen. Heißt es nicht auch in der heutigen Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an Titus (2,11f.): „Die Gnade Gottes ... erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen, und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben"?

Weihnachten lädt uns ein, sich nicht nur innig und festlich der Mensch-Werdung Gottes zu erinnern, sondern phantasiereich und tatkräftig auch unsere eigene Mensch-Werdung voranzutreiben. Nehmen wir uns wieder einmal bewusst für das Zeit, was uns wirklich wichtig ist, was uns hoffen lässt, was uns Kraft gibt: für Gott und die tiefste Wahrheit unseres Menschseins: dass wir gewollt und geliebt sind. Versuchen wir aus dieser Liebe heraus auch andere in unsere Gemeinschaft einzubeziehen und zu beschenken. Und werden wir ruhig wieder einmal wie die Kinder: voll Neugier, Staunen und Freude - und von einer unbändigen Sehnsucht, die darauf vertraut, dass sie gestillt werden wird.
 
Denn, so schreibt die Dichterin Nelly Sachs:

„Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben."

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen ein frohes und anregendes Fest geistvoller Mensch-Werdung.

+ Gerhard Feige

 

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