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Zwischen Himmel und Erde

Bischof Gerhard Feige zur Heiligen Nacht

Jesus, Maria und JosefJe älter ich werde, umso schwieriger wird es für mich, Weihnachten zu feiern, verlieren Äußerlichkeiten ihre Bedeutung, drängt sich mir immer mehr die Frage auf: Worum geht es bei diesem Fest eigentlich und wie könnte man das einigermaßen verständlich machen? Texte, die eine Ahnung davon vermitteln könnten, gibt es viele.

„Alle Jahre wieder“, so beginnt ein bekanntes Weihnachtslied. Das erweckt den Eindruck von festgefügter Tradition, immer dem Gleichen, nichts Neuem unter der Sonne. Einerseits ist es schön, Feste und Rituale zu haben, die regelmäßig wiederkehren. Das zeugt von Kontinuität und strukturiert unser Leben. Vertrautes begleitet uns. Aber besteht nicht auch die Gefahr, dass all das, was wir dabei für wichtig halten, zur Routine wird, zur hohlen Form? Fast alle in unserer Gesellschaft feiern Weihnachten, vielfältig und aufwendig – und doch scheint es so, dass nur noch wenigen der religiöse Gehalt dieses Festes wirklich bewusst ist und zu Herzen geht.

Oftmals singt man zu Weihnachten auch: „Leise rieselt der Schnee“. Um eine perfekte Feststimmung zu bekommen, gehört es für viele in unserem Land ganz einfach dazu, dass draußen frisch gefallener Schnee liegt, während sich drinnen die Familie im Warmen versammelt. Das hat was! Eine tolle Romantik, die auch mich durchaus ansprechen kann. Was aber dann, wenn es – wie in diesem Jahr – keine „weiße Weihnacht“ gibt, wenn man im Mittelmeerraum, am Atlantik oder in Asien solche Bedingungen überhaupt nicht vorfindet? Ist dem Fest dann seine Berechtigung genommen?

Und schließlich: Was wäre Weihnachten ohne „Stille Nacht, heilige Nacht“! Ich weiß, mit wie vielen Emotionen gerade dieses Lied immer wieder gesungen wird. Ich kenne aber auch Kritiker, die sagen: Singen nicht auch diejenigen es mit Inbrunst und unter Tränen, die am nächsten Tag wieder rechnen, übervorteilen, ja sogar morden? Was soll die ganze Erbauung, Rührung und Ergriffenheit, wenn nichts daraus folgt?

Ohne Zweifel erscheint Weihnachten in unseren Breiten als ein Mehrzweckfest für gestresste Seelen mit unzähligen Deutungs- und Gebrauchsmöglichkeiten, ein Sammelsurium von Kindheitserinnerungen, Wunschvorstellungen und Gestaltungselementen. Das möchte ich auch niemandem vermiesen. Uns Christen dürfte es aber nicht genügen, Zweit- und Drittrangiges mit dem Eigentlichen zu verwechseln. Was ist jedoch das tiefe Geheimnis des Weihnachtsfestes und seine unglaubliche Herausforderung? Mit wenigen Worten gesagt: Es ist das Bekenntnis zur Menschwerdung des Sohnes Gottes und zur göttlichen Herkunft Jesu von Nazareth. Der, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt  wurde und von den Toten auferstand, ist von Ewigkeit her Gott und in seiner irdischen Existenz — „empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria" — zugleich auch Mensch. Er verbindet damit Himmel und Erde, durchbricht unseren engen Horizont und eröffnet eine neue Zukunft. So legen es uns jedenfalls die biblischen Texte nahe.

Wer das zutiefst glauben kann, sieht die Welt in einem anderen Licht. Wir sind nicht mehr Verdammte dieser Erde, uns selbst überlassen oder ausgeliefert. Mit Jesus Christus ist die Gnade Gottes ganz konkret in unserer menschlichen Geschichte erschienen, um alle zu retten. Dieses einmalige und unüberbietbare Geschenk Gottes verändert unsere Existenz wesentlich. Wenn Gott selbst sich in diese Welt voll Tränen, Leid und Schmerz hineinbegeben hat, ist niemand mehr völlig einsam und verlassen. Damit hat unser irdisches Leben immer auch eine „himmlische“ Dimension, „nach oben offen“. Zugleich können wir aber nicht einfach in diesen Himmel „abheben“; die Erde mit all ihrer Mühsal, aber auch mit all ihren Freuden ist uns weiterhin zur Gestaltung aufgetragen. Und so leben wir gewissermaßen zwischen Himmel und Erde und fühlen uns manchmal „himmelhochjauchzend“ und dann wieder „zu Tode betrübt“. Diese Spannung zieht sich durch alles hindurch: durch unser persönliches Leben, durch unsere gesellschaftlichen Verhältnisse und auch durch unsere Kirche.

Im persönlichen Leben 

Bischof predigtDa gibt es z.B. bei jeder und jedem Einzelnen sicher irgendwelche „Sternstunden“. Ob das die erste Liebe ist, die Geburt eines Kindes, eine bestandene Prüfung oder ein gelungenes Fest: so etwas kann in besonderer Weise den Himmel auf Erden erahnen lassen. Manchmal ist es vielleicht auch ein festlicher Gottesdienst, der uns einen Vorgeschmack auf den Himmel vermittelt, oder die Erfahrung von Gottes Nähe im Zauber der Natur. Umgekehrt kann ein Schicksalsschlag aber auch all das in Frage stellen oder zunichte machen. Wie viele Menschen verlieren den Boden unter den Füßen und fallen in tiefe Abgründe, wenn eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird, ihre Ehe oder anderweitige Partnerschaft zerbricht, ein geliebter Mensch plötzlich stirbt. Und dann kennen wir auch die vielen Stunden und Tage, an denen nichts Besonderes passiert, die so dahinplätschern. Mal fühlen wir uns froh und zuversichtlich, mal geht uns alles schwer von der Hand. Es gibt Phasen einer großen inneren Zufriedenheit; dann sind wir zumeist mit uns selbst und unseren Nächsten im Reinen oder von unserer Arbeit erfüllt. Andererseits kann wiederum alles grau und mühsam werden; die Routine des Alltags ermüdet; manche Lebenslast wird immer schwerer.

 In der Gesellschaft

 Ähnlich spannungsreich geht es auch im größeren Zusammenhang unserer Gesellschaft zu. Auch da gibt es beides: Höhe- und Tiefpunkte, Himmel und Hölle.. Wer von uns Älteren erinnert sich nicht an die bewegenden Augenblicke und Tage, an denen die Mauer zwischen Ost und West gefallen ist und ein menschenwürdigeres Leben in Freiheit möglich wurde – demnächst sind es schon wieder 25 Jahre her! Im Gegensatz dazu werden wir seit einiger Zeit mit dem Terror rechtsextremer Gruppierungen konfrontiert, für die das Leben eines Menschen nichts wert ist. Zum einen erleben wir tatsächlich „blühende Landschaften“, zum anderen geraten immer mehr Menschen in bittere Armut. Einerseits gibt es eine große Hilfsbereitschaft, sich für Notleidende einzusetzen – eindrucksvoll z.B. bei der Hochwasserkatastrophe im letzten Sommer zu erfahren – , andererseits treffen wir auch wieder auf eine rücksichtslose Ellbogenmentalität, auf Unrecht und Gewalt. Täglich zeigt sich, dass unsere Gesellschaft – selbst eine so freie und hoch entwickelte wie die unsere – alles andere als ein Paradies auf Erden ist. Keine Staatsform hat es je geschafft, ein solches Paradies herzustellen. Und wo es mit Macht versucht wurde, ist statt des Himmels eher eine Hölle entstanden. Gerade im gesellschaftlichen Zusammenleben erfahren wir schmerzhaft, dass es keine vollkommene Gerechtigkeit geben wird, wie sehr sich die jeweiligen Regierungen auch darum bemühen werden. Immer bleibt noch etwas offen, immer werden Einzelne durch die Maschen fallen.

 In der Kirche

Und in der Kirche scheint es auch nicht anders zu sein. Zu Recht bekennen wir, dass sie von Gott her kommt und darum letztlich heilig ist, sein Werk und Instrument, um die Menschheit mit ihm und untereinander zu versöhnen, ein Zeichen der Hoffnung für alle Welt. Ohne diese göttliche Dimension bräuchten wir sie nicht. Kein Wunder also, wenn viele Menschen von der Kirche Enormes erwarten und bitter enttäuscht sind, wenn diese ihrem hohen Ideal nicht entspricht. Das aber gehört auch zur Wirklichkeit der Kirche, dass wir zugleich eine Gemeinschaft von Sündern sind, die auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen und sich – durch Jesus Christus erlöst – um ein gottgefälliges Leben mühen. Als Gemeinschaft der Gläubigen bilden wir – nüchtern betrachtet – ein Volk, zu dem auch Schwächlinge, Versager und Heuchler gehören und das seine Verwundeten mit sich schleppt, seit 2000 Jahren. Letztlich entschuldigt uns das nicht, macht aber unmissverständlich bewusst, dass wir auch als Kirche immer wieder der Bekehrung und Erneuerung bedürfen. Und das Erfreuliche ist, dass wir dazu auch fähig sind. Trotz aller Unvollkommenheit wirkt Kirche auf vielen Gebieten weiterhin segensreich, hat sie auch heute genügend Rückgrat, Beweglichkeit und Charme, kann sie Menschen überzeugen und begeistern, gibt es neben Sündern auch Heilige. Die Spannung, der sie ausgesetzt ist, aber bleibt: göttlich und menschlich zugleich zu sein, dem Himmel und der Erde verpflichtet, nicht überirdisch abzuheben oder jeglichem Zeitgeist zu verfallen, sondern fantasievoll und mutig ihrer Sendung gerecht zu werden.

Zwischen Himmel und Erde, manchmal „himmelhochjauchzend“ und dann wieder „zu Tode betrübt“. So verläuft normalerweise unser Leben. Wir könnten dagegen aufbegehren. Wir könnten es einfach hinnehmen. Wir könnten daran verzweifeln. Wir haben aber auch die Möglichkeit, uns gläubig auf die Botschaft des Weihnachtsfestes einzulassen: Gottes Sohn wird Mensch, das Licht kommt in die Finsternis, mitten in der Kälte blüht eine Rose auf. Uns wird etwas geschenkt, was wir selbst nicht produzieren können oder verdient haben: die Zusage von Erlösung, Vollendung und ewigem Leben. Wir haben Zukunft, auch wenn uns manchmal Probleme und Schwierigkeiten niederdrücken. Aus dieser tiefen Hoffnung heraus konnten und können Christen sogar in notvollen Situationen Weihnachten feiern: auch in Krankenhäusern und Gefängnissen, im Krieg und auf der Flucht, fern der Heimat oder angesichts des Todes lieber Mitmenschen. Wer sich von einem Sinn getragen weiß und ein Ziel sieht, vermag manches Unverständliche zu verkraften und den Mut nicht zu verlieren.

Darum geht es letztendlich zu Weihnachten: um nichts anderes als um unser Leben. Möge das Geheimnis der Menschwerdung Gottes uns mit Freude und Zuversicht erfüllen. Das ist das Eigentliche. Alles andere aber – herzliche Begegnungen, liebevolle Geschenke, geschmückte Tannenbäume, gemütvolle Lieder und köstliches Essen – ist auch nicht zu verachten. Man braucht es nicht unbedingt, um Weihnachten feiern zu können; es gehört aber irgendwie dazu und bringt auf sinnliche Weise zum Ausdruck, was uns innerlich bewegt. So wünsche ich Ihnen allen ein zu Herzen gehendes Weihnachtsfest und im Umgang miteinander ein waches Gespür für jede Sehnsucht nach erfülltem Leben.

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