„Was ist der Mensch, dass Du an ihn denkst, was ist das Kind eines Menschen, dass Du es lieb hast? Du hast ihm fast die Würde eines himmlischen Wesens gegeben. Mit Schönheit und Adel hast Du ihn gekrönt.“ Ein Staunen liegt in diesem Psalmvers: ein Staunen über die Größe und Würde, die dem Menschen gegeben ist, und ein Staunen über Gott, der dem Menschen solches Anse- hen schenkt. Die besondere Würde des Menschen wird auch an anderen Stellen in der Bibel betont. So wird sie in der ersten Schöpfungserzählung mit der Gott- ebenbildlichkeit ausgedrückt: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Dieser bereits in der ägyptischen Königstheologie bekannte Topos der Ebenbildlichkeit ist hier von revolutionärer Kraft, da er für alle gilt: Jeder Mensch, egal welchen Geschlechts oder welcher Herkunft, ist nach Gottes Bild geschaffen. Als Ebenbild ist er zugleich ein Gegen- über Gottes, von ihm geliebt und zur Liebe bestimmt. Er existiert in Beziehung zu Gott und zu seinen Mit- menschen, ist mit Vernunft und Freiheit begabt und dazu beauftragt, Verantwortung für sich, den anderen und die Welt zu übernehmen. Doch zugleich weiß die Bibel um die Schattensei- ten des Menschen: Als geschaffenes Wesen ist er auch abhängig, schwach, bedroht, und er kann für andere zur Gefahr werden. Am Beispiel des Sündenfalls, des Brudermords von Kain an Abel, der Eifersucht Sarahs auf Hagar, des Verrats Jakobs an Esau und in vielen anderen Erzählungen wird fast von Beginn an die Dra- matik des Menschseins dargestellt. Und so gesellt sich zum Staunen über die Schönheit des Menschen der Schrecken über seine Abgründe. Auch wenn beides kaum zusammenzubringen ist, liegt darin die Stärke biblischer Erzählungen: Sie sind gesättigt von Erfah- rungen im Miteinander und verschweigen nur allzu Menschliches nicht. Bis heute besteht diese Spannung: Menschen haben verschiedene Seiten und können unterschiedli- che Gesichter zeigen. Von außen ist oft nicht zu beur- teilen, was in einem Menschen vor sich geht. Personen, für die man die Hand ins Feuer gelegt hätte, können Täter werden. Und Menschen, die argwöhnisch beäugt werden, weil sie irgendwie „anders“ sind, können sich als Retter in der Not erweisen. Wer ehrlich mit sich selbst ist, weiß um die eigenen Schattierungen der Gefühle und Stimmungen, kennt in sich Missmut, Aggression oder gar Hass ebenso wie Dankbarkeit und ungetrübte Freude. Es ist eine tägliche, manchmal stündliche Entscheidung, dem Guten und Aufbauen- den den Vorrang vor dem Zerstörerischen oder Trost- losen zu geben. Diese grundsätzliche Unberechenbarkeit des Men- schen ist manchmal schwer auszuhalten, vor allem wenn es um sein Gewaltpotenzial geht. Im alltägli- chen Umgang aber sind die Achtung vor dem Nächsten und die Akzeptanz, dass er nie vollständig verfügbar oder berechenbar ist, die Voraussetzung für Liebe. „Du sollst dir kein Bild machen“ (Ex 20,4) – dieses Gebot ist auch für den mitmenschlichen Umgang wichtig, um den anderen nicht einzuengen, zu überhöhen oder zu unterdrücken. So ist der Mit-Mensch nah und fern, vertraut und geheimnisvoll zugleich. Eine tiefer gehende Begeg- nung ist durch den gegenseitigen Anblick möglich. Das betont die Philosophin Edith Stein in ihrer phä- nomenologischen Untersuchung „Der Aufbau der menschlichen Person“: „Wenn zwei Menschen einan- der anblicken, dann stehen ein Ich und ein anderes Ich einander gegenüber. Es kann eine Begegnung vor den Toren sein oder eine Begegnung im Innern. Wenn es eine Begegnung im Innern ist, dann ist das andere Ich ein Du.“ Für Emmanuel Lévinas, ebenfalls Phänome- nologe, offenbart sich die „Spur des Unendlichen“ im Anblick des Anderen und macht diesen unendlich kost- bar. Das zwingt in eine strikte Verantwortung für ihn. In seiner Schrift „Totalität und Unendlichkeit“ betont er: „Ich sehe, dass er mich ansieht, und er sieht so auch mich. In seinem ‚Antlitz‘ zeigt sich eine unendliche Fremdheit, aus der mich die ganze Menschheit anblickt und sagt: ‚Du wirst keinen Mord begehen.‘“ Fremd- heit ist bei Levinas positiv konnotiert: Der Andere, der Fremde, erinnert mich an das Unendliche, an Gott, an das Geheimnis. Daraus entsteht der Imperativ, dass ich dem anderen keine Gewalt antun darf und dass er – wie ich – persönliche und soziale Grundrechte hat. IN UNSERER ZEIT WIRD OFT VERSUCHT, DAS FREMDE ZU (VER-)MEIDEN. Zum einen scheint es das Fremde durch Reisefrei- heit, Globalisierung und Internet gar nicht mehr zu geben. Bestimmte Marken setzen sich weltweit durch, die unterschiedlichen Kulturen vermischen sich immer mehr und die Möglichkeit, überall auf der Welt nach den eigenen Gewohnheiten zu leben, steigt. Zum Kultur der Aufmerksamkeit 7