map_simpleBistumskarteJetzt spenden
201004-KNA_Enzyklika_Assisi_1340_550

Würdigung der neuen Enzyklika

Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing

Die vollständige Enzyklika Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft, finden Sie über diesen Link

Der Inhalt in Kürze:

• Papst Franziskus formuliert mit seiner Enzyklika einen „neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft“ (FT 6). „Es ist möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit bietet.“ (FT 127)

• Fratelli tutti ist ein Appell für weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit. Papst Franziskus wendet sich gegen nationale Abschottung: „Heute ist kein isolierter Nationalstaat in der Lage, das Gemeinwohl seiner  Bevölkerung  zu  gewährleisten.“ (FT 153) Er regt an, über eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ nachzudenken (FT 126) und sieht uns Christen in der Verantwortung, keine neuen Mauern zu errichten und daran zu arbeiten, bestehende einzureißen (vgl. FT 27, 276, 284).

• Geschwisterlichkeit ist für Papst Franziskus eine „Liebe, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt“ und weit entfernte Menschen genauso achtet wie Menschen in der unmittelbaren Nähe (FT 1). Es geht im Kern um die Würde des Menschen, die sich aus der Gottesebenbildlichkeit heraus begründet. Bedingendes Wesensmerkmal jedes gesunden und nicht ausgrenzenden Gesellschaftslebens ist diese Liebe (vgl. FT 184). Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken müssen wir bereit sein, unsere Liebe für Leidende in unserer Nähe zu öffnen (vgl. FT 30).

• Als Idealbild einer Gesellschaft verwendet Papst Franziskus wiederholt das Bild des Polyeders. Ein solches Vieleck hat viele Seiten, die aber zusammen eine Einheit bilden. In dieser Gesellschaft sollten „die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn“ (FT 215). Niemand ist nutzlos und entbehrlich.

• Der Papst verliert nicht die Hoffnung, die er unter anderem aus der neuen Wertschätzung für viele Menschen zieht, die in der Corona-Pandemie großes Engagement gezeigt und„in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben“ (FT 54).

• Krieg kennt keine Gewinner, denn „[j]eder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat“ (FT 261) – zumal angesichts des technologischen Fortschritts und gestiegener Interdependenzen eine kriegerische Auseinandersetzung noch größere Negativfolgen mit sich bringt als früher. Er spricht erneut von der Gefahr eines „Weltkrieg[s] in Stücken“ (FT 259).

• Papst Franziskus unterstreicht die notwendige Rückkehr zu einer „Kultur der Begegnung“ (FT 30) und zu echten Dialogen, weg von den „parallel verlaufenden Monologen“, die derzeit häufig ablaufen (FT 200). Kommunikation sollte auf Erfassung der Wirklichkeit (vgl. FT 47, 203f.) und grundlegenden Wahrheiten (vgl. FT 211f.) basieren und vor allem aus Zuhören bestehen (vgl. FT 48). Der echte und aufrichtige Dialog ist auch für die Kirche in Deutschland auf dem Synodalen Weg die Richtschnur.

• Papst Franziskus setzt sich für Chancengerechtigkeit, soziale Inklusion und Teilhabegerechtigkeit ein (vgl. FT 98). Die Deutsche Bischofskonferenz fühlt sich damit bestätigt in ihrem Engagement der zurückliegenden 25 Jahre, in dem sie sich immer wieder zu gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen geäußert hat und für diese sozialethischen Werte und Ziele eingetreten ist.

• Die Kirche steht in der Pflicht, sich in gesellschaftliche und politische Diskussionen und Entscheidungsprozesse einzubringen. Sie „respektiert (…) zwar die Autonomie der Politik, beschränkt aber ihre eigene Mission nicht auf den privaten Bereich. Im Gegenteil, sie kann und darf beim Aufbau einer besseren Welt nicht abseits stehen (…)“ (FT 276).

Die Würdigung von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing,

In einer Zeit, die von einer globalen Pandemie, Sorgen und Unsicherheit geprägt ist, legt Papst Franziskus die Sozialenzyklika Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft als „demütigen Beitrag zum Nachdenken vor“ (FT 6). Sie ist getragen von dem großen Wunsch, dass wir „die Würde jedes Menschen anerkennen“ und „ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken“ (FT 8). Papst Franziskus stellt sich den großen Fragen unserer Zeit, wie Globalisierung, Ungleichheit, Migration und Digitalisierung. Und er betont die Rolle der Religionen im Streben nach Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Er wirbt für Multilateralismus und Zusammenarbeit in einer Zeit, in der vielfach Grenzen und Mauern gezogen werden. Auf eine neue Kultur hin mahnt Papst Franziskus einen echten und aufrichtigen Dialog an; einen Dialog, für den die Enzyklika wesentliche Impulse liefert, die ich mir dankbar zu eigen mache.

Wörtlich übersetzt bedeutet der Titel der Enzyklika „Alle Brüder“. Im Italienischen entspricht „fratelli“ jedoch auch dem Wort „Geschwister“, das im weiteren Verlauf durchgehend Verwendung findet. Der Ausdruck „fratelli tutti“ ist ein wörtliches Zitat aus einem Schreiben des hl. Franz von Assisi an die Mitbrüder seines Ordens. Nicht nur aus der Grammatik, sondern erst recht aus den Inhalten der Enzyklika und den geschilderten weltweiten Problemlagen geht der inklusive Charakter des Schreibens klar hervor. Für Papst Franziskus haben „die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte […] wie die Männer“ (FT 23) und er nennt es „inakzeptabel (…), dass eine Person weniger Rechte hat, weil sie eine Frau ist“ (FT 121).

Fratelli tutti ist die dritte Enzyklika von Papst Franziskus und nach seiner Umwelt- und Sozialenzyklika Laudato si’ die zweite, die vollständig aus seiner Feder stammt. Fratelli tutti bietet im achten Jahr seines Pontifikats eine umfangreiche Zusammenschau zentraler Anliegen des Papstes. Sie ist keine reine Fortschreibung von Laudato si’, sondern sie setzt eigene Schwerpunkte. Zwar sind beide Enzykliken stark von der Person des hl. Franz von Assisi inspiriert; während Laudato si’ sich jedoch insbesondere an dessen Einigkeit mit der Schöpfung orientiert, knüpft Fratelli tutti daran an, dass der Poverello sich „noch viel tiefer eins [wusste] mit denen, die wie er von menschlichem Fleisch waren“ (FT 2).

Fratelli tutti steht in einer langen päpstlichen Tradition der Sozialenzykliken, auf die der Text auch häufig Bezug nimmt. In einer Sozialenzyklika geht es nicht um die Verkündigung von Glaubenswahrheiten, sondern darum, wie es in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Gaudium et spes 4). Rerum novarum, die erste Sozialenzyklika, formulierte 1891 eine kirchliche Antwort auf die Soziale Frage. In der Folge wurde diese mit Quadragesimo anno im Jahr 1931 und Centesimus annus im Jahr 1991 jeweils aktualisiert und fortgeschrieben. Zudem erschienen Enzykliken wie Mater et magistra, die im Jahr 1961 die Frage des Gemeinwohls in globaler Perspektive betrachtete und im Jahr 1967 die Entwicklungsenzyklika Populorum progressio. Auch Laborem exercens (1981), Sollicitudo rei socialis (1987) Caritas in veritate (2009) und Laudato si’ (2015) entwickelten die Sozialverkündigung fort.

Fratelli tutti ist kein innerkatholisches, exklusives Lehrschreiben, sondern die Überlegungen sind, wie in der Sozialverkündigung seit Pacem in terris (1963) üblich, offen „für den Dialog mit allen Menschen guten Willens“ (FT 6). Insbesondere hat sie eine starke interreligiöse Ausrichtung mit Blick auf den Islam und knüpft an Papst Franziskus Treffen mit Großimam Ahmad al-Tayyeb von der ägyptischen al-Azhar-Universität in Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) im Februar 2019 an, während der ersten Reise eines Papstes auf die Arabische Halbinsel. Zitate aus der in Abu Dhabi unterzeichneten Erklärung über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt durchziehen und rahmen die Enzyklika. So haben die beiden Religionsführer etwa daran erinnert, dass Gott „alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben“ (FT 5). Dass die Treue zum eigenen Glauben nicht im Widerspruch zum Respekt und zur Dialogbereitschaft gegenüber anderen Religionen steht, hat das Zweite Vatikanische Konzil schon vor mehr als einem halben Jahrhundert in seiner Erklärung Nostra aetate (1965) unmissverständlich klargemacht. Und Papst Franziskus steht mit seinen eigenen Bemühungen im interreligiösen Dialog ganz eindeutig in Kontinuität zu seinen beiden Vorgängern, Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. Der hl. Papst Johannes Paul II. hatte erstmals 1986 zu einem interreligiösen Weltgebetstreffen nach Assisi eingeladen – nicht durch Zufall der Ort, an dem Papst Franziskus die Enzyklika gestern unterzeichnet hat. Die Interkonfessionalität und Interreligiösität spiegelt sich in Fratelli tutti auch in Verweisen auf die Orthodoxie und auf jüdisches Gedankengut (z.B. FT 59) sowie im Ausdruck der Wertschätzung für nichtkatholische Friedensstifter wie Martin Luther King, Desmond Tutu und Mahatma Gandhi wieder (FT 286). Als Vorbild präsentiert der Papst seinen Leserinnen und Lesern den seligen Charles de Foucauld (1858-1916), einen französischen Soldaten, Forscher und Trappisten- Mönch. Dessen Lebenswandel mit einer gläubigen Umkehr, gefolgt von einer asketischen und von der Identifikation mit den Geringsten und Verlassenen geprägten Lebensweise war dem des hl. Franz von Assisi ähnlich.

Die Enzyklika steht stark unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. Für den Papst hat diese „unsere falschen Sicherheiten [offengelegt]“ und aus den verschiedenen Antworten unterschiedlicher Länder kam „die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein“ (FT 7). Papst Franziskus beklagt eine Zersplitterung trotz aller Vernetzung. Diese Bewertung mündete in seinen Appell vor der UN-Vollversammlung am 25. September 2020, in dem er die Corona-Krise als Zeit der Entscheidung bezeichnet und die Weltgemeinschaft zu einer neuen Weichenstellung aufgerufen hat.

Das Denken des Papstes ist von vielen verschiedenen Einflüssen geprägt. Ebenso wie in Laudato si’ greift der Papst auf Vorarbeiten der nationalen Bischofskonferenzen zurück und zitiert diese ausführlich. Zudem nimmt er philosophische Überlegungen auf, etwa die der französischen Philosophen Gabriel Marcel (vgl. FT 87) und Paul Ricœur (vgl. FT 102), aber auch die Kultursoziologie des deutschen Philosophen Georg Simmel (vgl. FT 150); auch zitiert er Karl Rahner (vgl. FT 88).

Übersicht

Im 1. Kapitel wirft Papst Franziskus einen Blick in die Wirklichkeit und er zeigt Entwicklungen der Gegenwart auf, die „die Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern“ (FT 9). Dazu gehört in erster Linie das Aufleben des Nationalismus: „In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlustes des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden.“ (FT 11) Politische Führer würden „Hoffnungslosigkeit säen und ständiges Misstrauen wecken“ und verwenden Taktiken „des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens“ (FT 15). Zudem werden Individualismus und Konsumismus kritisiert (vgl. FT 13). Wie in Laudato si’ prangert Franziskus eine Wegwerfgesellschaft an, in der Teile der Menschheit wie Kranke, Behinderte, Ungeborene und Alte als „nicht nützlich“ angesehen und „weggeworfen“ werden (FT 18, 19) und in der weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit bestehen. Universale Menschenrechte sind zwar auf dem Papier festgeschrieben, werden aber nicht eingehalten, stattdessen gibt es nach wie vor Formen der Sklaverei und des Menschenhandels (vgl. FT 22– 24). Die Globalisierung führt insofern nicht zu mehr Geschwisterlichkeit, sondern es herrscht eine „bequeme, kalte und weit verbreitete Gleichgültigkeit“ (FT 30). In vielen Ländern führt die Homogenisierung der Welt zu einer Erniedrigung des nationalen Selbstwertgefühls, zur Entfremdung und zur „Verachtung der eigenen kulturellen Identität“ (FT 51, vgl. FT 52–53) Franziskus beschäftigt sich auch mit der Migrationsthematik (FT 37–41) – ein Thema, das sein Pontifikat seit seiner ersten Reise auf die Insel Lampedusa durchzieht – und betont: „Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.“ (FT 39)

Zudem werden Fehlentwicklungen der Digitalisierung skizziert – ein in der päpstlichen Sozialverkündigung neues und der Höhe der Zeit angemessenes Thema (vgl. FT 42–50). Auch hier benennt der Papst überwiegend kritische Aspekte: „Die digitale Vernetzung genügt nicht, um Brücken zu bauen; sie ist nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen.“ (FT 43) Er beklagt Aggressivität im Umgang (vgl. FT 44) und den Verlust der Fähigkeit, zuzuhören (vgl. FT 48) und konstatiert: „Die erdrückende Fülle von Information, die uns überschwemmt, ist nicht gleichbedeutend mit mehr Weisheit.“ (FT 50)

Im 2. Kapitel widmet sich Papst Franziskus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, aus dem der Auftrag erwächst, dem Nächsten ohne Ansehen der Person Hilfe und Unterstützung zu gewähren. Papst Franziskus betont: „Für die Liebe ist es unerheblich, ob der verletzte Bruder von hier oder von dort kommt.“ (FT 62). Das Beispiel des barmherzigen Samariters fordert uns auf, so der Papst, „unsere Berufung als Bürger unseres Landes und der ganzen Welt, als Erbauer einer neuen sozialen Verbundenheit“ (FT 66) zu erneuern und ihr nachzukommen, um nicht weiter „Analphabeten“ (FT 64) zu bleiben im Hinblick auf die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Der Papst ist sich sicher, dass jeder von uns Wesenszüge der im Gleichnis auftretenden Personen in sich trägt: des Verletzten wie des Räubers, der Vorübergehenden wie des Samariters (vgl. FT 69). Er gibt in diesem Kapitel gerade den Gläubigen zu bedenken, „dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, nicht gewährleistet, so zu leben, wie es Gott gefällt.“ (FT 74) Papst Franziskus unterstreicht, dass defizitäre Systeme oft nur bestehen bleiben, weil Zahlreiche innerhalb des Systems sich selbst gar nichts zuschulden kommen lassen, von den Missständen aber dennoch profitieren, und darum kein Interesse daran haben, die „Straßenräuber“ von ihren Untaten abzuhalten (FT 75). Jesus Christus hat jeden von uns mit diesem Gleichnis und seinem Wirken aufgerufen, nicht danach zu fragen, „wer die sind, die uns nahe sind, sondern uns selbst zu nähern, selbst Nächster zu werden“ (FT 80), und so auf die hilfsbedürftige Person zuzugehen, „ohne darauf zu schauen, ob sie zu meinen Kreisen gehört.“ (FT 81) Die Kirche hat lange gebraucht, Sklaverei und andere Formen der Gewalt zu verurteilen. Heute gibt es dafür keine Entschuldigung mehr. Die Kirche muss in Katechese und Predigt verstärkt Ansätzen entgegentreten, die Menschen(gruppen) ihre Würde absprechen oder unterlassene Hilfe an „Fremden“ rechtfertigen (FT 86).

Im 3. Kapitel verdeutlicht Papst Franziskus, dass Menschsein von Beziehungen und der Offenheit für andere lebt. Die Liebe zum Mitmenschen macht das Leben erst erfahrbar; Leben existiert dort, wo Beziehungen bestehen und Kommunikation stattfindet (vgl. FT 87). Erst die Nächstenliebe erzeugt die Dynamik, mit der Tugenden wie Fleiß oder Nüchternheit gesellschaftsförderlich wirken können (vgl. FT 91). „Die größte Gefahr besteht“ laut Franziskus „darin, nicht zu lieben.“ (FT 92) Der Papst zeigt sich überzeugt, dass uns diese Liebe auf die „universale Gemeinschaft“ (FT 95) ausrichtet, da niemand in Isolation die volle Entfaltung seiner selbst erreichen kann. Dies gilt auch über die Grenzen unserer Länder hinaus oder an den Rändern unserer Gesellschaft, wo immer noch viele ausgegrenzt werden und nicht an der Gesellschaft teilhaben dürfen (vgl. FT 96-98). Diese grenzüberschreitende Liebe nennt Papst Franziskus „soziale Freundschaft“ (FT 99), die, authentisch gelebt, die „Möglichkeit […] universaler Offenheit“ (FT 99) bietet. Entschieden widerspricht Papst Franziskus einem Globalisierungsmodell, das kulturelle Eigenheiten und Traditionen einzuebnen versucht (vgl. FT 100).

Im Rückbezug auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verdeutlicht er im Anschluss daran, wie wichtig es ist, klassifizierendes Denken zu überwinden und sich nicht nur in Gruppen aufzuhalten, die ihre eigene Identität durch die Abschottung und Abwertung des anderen bewahren wollen (vgl. FT 101-102). Franziskus betont, dass ohne Geschwisterlichkeit über Grenzen hinaus Freiheit und Gleichheit ihre Bedeutung und ihren Wert verlieren. Er stellt fest:

„Der Individualismus macht uns nicht freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen.“ (FT 105) Nicht zufällig wählt er wohl dieses Bild, wenn er schreibt, dass „radikaler Individualismus der am schwersten zu besiegende Virus [ist].“ (FT 105)

Um die Schwächeren einer Gesellschaft zu unterstützen und zu schützen, benötigt man einen „präsenten und aktiven Staat und zivilgesellschaftliche Institutionen“ (FT 108). In Staaten, wo dieses Prinzip nicht gilt, oder in Gesellschaften, die in erster Linie den Kriterien des freien Marktes folgen, verlieren Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Geschwisterlichkeit ihren Sinn, wohingegen eine menschliche und geschwisterliche Gesellschaft dafür sorgen kann, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, „das Beste [zu] geben“ (FT 110). Insbesondere die Solidarität mit den Ärmsten und Schwächsten und das am Gemeinwohl orientierte Denken und Handeln sieht er hier von zentraler Bedeutung (vgl. FT 112-117).

Den letzten Abschnitt dieses Kapitels widmet der Papst der sozialen Funktion des Eigentums. Indem er erneut betont, dass alle Menschen gleich an Würde geschaffen sind, folgert er, dass„wir als Gemeinschaft verpflichtet [sind], dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in Würde leben kann und angemessene Möglichkeiten für seine ganzheitliche Entwicklung hat.“ (FT 118) Güter, die für alle geschaffen wurden, sollen von allen genutzt werden können. Diesem Prinzip hat sich unter anderem auch das Recht auf Privateigentum unterzuordnen (FT 120). Das Interesse einiger weniger am Anhäufen weiterer Reichtümer darf nicht über den Interessen der Armen und der Bewahrung der Schöpfung stehen (FT 122). Zugleich betont Franziskus, dass Gott die Entfaltung aller Fähigkeiten, die er uns gegeben hat, will, wirtschaftliche und technologische eingeschlossen. Diese sollen jedoch immer auf „die Entwicklung anderer Menschen und auf die Überwindung der Armut ausgerichtet“ (FT 123) sein.

Im 4. Kapitel bezieht sich der Papst ausführlich auf Migranten als unsere Nächsten und betont erneut: „Unsere Bemühungen für die zu uns kommenden Migranten lassen sich in vier Verben zusammenfassen: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren.“ (FT 129) So fordert er, für die am stärksten gefährdeten Flüchtlinge humanitäre Korridore einzurichten und Migranten gemäß der gleichen Würde aller Menschen die freie Entfaltung ihrer Person zu ermöglichen; ebenso sind ihm das Recht auf Familienzusammenführung und die Förderung der Integration von Migranten wichtige Anliegen (vgl. FT 130) sowie die Unterstützung der Herkunftsländer (vgl. FT 129). Bei alledem bedürfe es einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit, die letztlich einer „umfassende[n] Gesetzgebung (governance) für Migration“ den Weg ebnet  (FT 132). Papst Franziskus stellt sich mit großer Entschiedenheit jeder Form von Fremdenfeindlichkeit entgegen. Stattdessen wirbt er dafür, Migration als Gelegenheit zu begreifen, um im gegenseitigen Austausch die ganzheitliche menschliche Entwicklung voranzubringen (vgl. FT 133-136). Es bedürfe einer Weltordnung zur Förderung einer solidarischen Entwicklung aller Völker, die „letztlich dem ganzen Planeten zugute [kommt]“ (FT 138). Kritisch äußert sich der Papst gegenüber Ländern, die nur Menschen aufnehmen möchten, die unmittelbar der eigenen Wirtschaft nutzen (vgl. FT 139). Tatsächlich müsse eine Aufnahme von Uneigennützigkeit geleitet sein (vgl. FT 140). Nationalistische Abschottung sei zu vermeiden (vgl. FT 141). Franziskus benennt eine Spannung zwischen dem Globalen und dem Lokalen als zwei Pole, die aber miteinander vereint einen Verfall ins Extreme verhindern und deren Trennung zu Polarisierung führt. Er konkretisiert dies in der untrennbaren Verbindung der universalen Geschwisterlichkeit aller Menschen und der sozialen Freundschaft im Inneren jeder Gesellschaft (vgl. FT 142).

Mit dem 5. Kapitel legt der Papst die ideale Gestaltung von Politik dar, die er „im Dienst am wahren Gemeinwohl“ verortet (FT 154). Gefahren sieht er beispielsweise im Populismus   (FT 155), der als in Schwarz und Weiß einteilender Begriff die gesellschaftliche Debatte polarisiert: „Niemand kann sich mehr zu irgendeinem Thema äußern, ohne dass versucht wird, ihn einem dieser beiden Pole [„populistisch“ oder „nicht populistisch“] zuzuordnen […]“   (FT 156). In dem Zusammenhang thematisiert der Papst die Legitimität des Volksbegriffs, der aber nicht so verstanden werden darf als „dass alles, was das Volk tut, gut wäre“; entscheidend ist vielmehr: „Teil des Volkes zu sein heißt, Teil einer gemeinsamen Identität aus sozialen und kulturellen Bindungen zu sein.“ (FT 158) Dabei verwahrt er sich gegen eine statische Vorstellung von Identität und betont stattdessen: „Ein lebendiges, dynamisches Volk mit Zukunft ist jenes, das beständig offen für neue Synthesen bleibt.“ (FT 160) Im diametralen Unterschied zu populistischen Positionen beschreibt der Papst die Kategorie „Volk“ als offen: „Die geschlossenen populistischen Gruppen verzerren das Wort ‚Volk‘. Wovon sie reden, ist nämlich in Wirklichkeit kein echtes Volk.“ (FT 160)

In der internationalen Politik plädiert der Papst für die Verteilung und die Begrenzung von Macht (vgl. FT 171), ein multilaterales Vorgehen (vgl. FT 172, 174), „die unangefochtene Herrschaft des Rechtes“ (FT 173) und das Prinzip der Subsidiarität (vgl. FT 175), das untrennbar verbunden ist mit dem Prinzip der Solidarität (vgl. FT 187), das wiederum als Baugesetz der Gesellschaft für deren Solidität und Sicherheit sorgt (vgl. FT 115, Fußnote 88). Er konkretisiert diese Prinzipien im Begriff der „Tätigkeit der politischen Liebe“ (FT 186), bei der die Politik nicht in der Ausrichtung an unmittelbaren Interessen und Wahlzwecken verortet wird, sondern in der Orientierung an zukünftigen Generationen und einer „authentischen Gerechtigkeit“ (FT 178). Wesentlich ist, dass der schon von Papst Johannes Paul II. benutzte Begriff der „sozialen Liebe“ eine Kraft ist, um „Strukturen, soziale Organisationen und Rechtsordnungen von innen heraus und von Grund auf zu erneuern.“ (FT 183) Liebe drückt sich, wie Papst Benedikt XVI. sagt, auch in „Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen“ aus (FT 181). Politische Nächstenliebe ist offen für alle und Aufgabe der Politik ist es, verschiedene Stimmen zu hören. Die politische Tätigkeit ist an den Schwachen und Armen auszurichten (vgl. FT 194) und Politik ist nicht „als eine reine Machtsuche“ zu verstehen (FT 195), sondern verbunden mit der Hoffnung auf das Gute (vgl. FT 196). Politisches Tun darf nicht nach einem möglichst großen Zuspruch fragen, sondern nach der Richtigkeit und Wahrheit der Ziele: „Auf diese Weise betrachtet ist die Politik edler als ihr Erscheinungsbild, des Marketings, der verschiedenen Formen der medialen Verzerrung“ (FT 197).

Im 6. Kapitel führt Papst Franziskus den hohen Wert des Dialoges aus: Dialog „hilft unauffällig der Welt, besser zu leben, und zwar viel mehr, als uns bewusst ist“ (FT 198). Der „hitzige Meinungsaustausch in sozialen Netzwerken“ (FT 200) oder die „sensationsgierige Verbreitung von Fakten und Aufrufen in den Medien“ (FT 201) dürfen dabei nicht mit echtem Dialog verwechselt werden. Vielmehr setzt Dialog „die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält“ (FT 203); er dient der Wahrheitsfindung und benötigt auch interdisziplinären Austausch (vgl. FT 204). Zwar kann das Internet „größere Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität untereinander bieten“; ob das tatsächlich realisiert wird, muss jedoch ständig überprüft werden (FT 205). „Manipulation, Verzerrung und Verschleierung der Wahrheit im öffentlichen und privaten Bereich“  müssen  immer  wieder  entlarvt  werden  (FT 208). Zum Dialog in einer pluralistischen Gesellschaft gehört zudem die Verständigung auf grundlegende Wahrheiten und bleibende Werte (vgl. FT 211). Es braucht die individuelle Bereitschaft, eventuell etwas für das Gemeinwohl aufzugeben (vgl. FT 221) und nicht zuletzt einen Lebensstil, der von Freundlichkeit, Wertschätzung und Respekt geprägt ist (vgl. FT 222– 224).

Im 7. Kapitel widmet sich der Papst dem Frieden in der Welt (vgl. FT 225), was er beispielsweise mit Bezügen zu Stellungnahmen der nationalen Bischofskonferenzen im Kongo sowie in Kroatien, Kolumbien und Südkorea unterstreicht. Zum ersten Mal widmet sich eine päpstliche Enzyklika in dieser Ausführlichkeit und Tiefe dem Thema der (gesellschaftlichen) Versöhnung. Eindrucksvoll bündelt er damit Erfahrungen und Einsichten aus vielen Ortskirchen und seiner Vorgänger, insbesondere Johannes Paul II. Durch seine klare Sprache wehrt er einem romantisch verbrämten Versöhnungsbegriff. Denn: Allein die Wahrheit ermöglicht, verbunden mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die Beilegung und Aufarbeitung von Konflikten sowie das Durchbrechen von Kreisläufen der Gewalt (vgl. FT 227). In der Unterscheidung einer „Architektur“ und eines „Handwerks“ des Friedens (FT 231) betont er die Bedeutung von Zusammenarbeit „ohne Aufgabe der eigenen Identität“ (FT 230) – es geht mithin nicht um eine Homogenisierung der Gesellschaft (vgl. FT 228) – sowie die Notwendigkeit einer inklusiven Gesellschaft (vgl. FT 230). Der Aufbau von Frieden in einem Land sei ein niemals abgeschlossener Prozess,  der einer „Kultur der Begegnung“ bedarf    (FT 232). Dies bedingt eine Begegnung mit den „Geringsten der Gesellschaft“ und eine Option für die Armen (vgl. FT 234), da „Ungleichheit und eine fehlende ganzheitliche Entwicklung des Menschen eine Friedensbildung unmöglich machen“ (FT 235). Zentral ist ein richtiges Verständnis von Vergebung und Versöhnung (vgl. FT 237), die aber nicht zum Vergessen führen dürfen (vgl. FT 246, 250). Wahre Versöhnung wird im dialogisch, transparent, aufrichtig und geduldig geführten Konflikt erreicht (vgl. FT 244) und alle Versuche ihrer Vermeidung bezeichnet der Papst als Wahl eines Scheinfriedens. Vergebung erfordert indes weder Rache (vgl. FT 251) noch Straflosigkeit (vgl. FT 252), sondern vielmehr die Suche nach Gerechtigkeit (vgl. FT 241) und Frieden, der im Übrigen „nicht nur die Abwesenheit von Krieg“ ist (FT 233).

Der Papst thematisiert als „falsche Antworten“ zur Lösung von Problemen den Krieg und die Todesstrafe (FT 255). Hier stehen, wie schon zuvor, Forderungen nach multilateralen Lösungen, nach der Herrschaft des Rechts und nach einem unermüdlichen Rückgriff auf Verhandlungen im Vordergrund (vgl. FT 257), wobei sich Papst Franziskus gegen einen

„gerechten Krieg“ und gegen kriegsrechtfertigende Vorwände ausspricht (FT 258). Auch eine Strategie der Abschreckung mit nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen werden klar abgelehnt (vgl. FT 262). Neben eine kollektive Vernichtung durch den Krieg stellt der Papst die individuelle Vernichtung durch die Todesstrafe, die unzulässig ist und weltweit abgeschafft werden muss (vgl. FT 263–267). Überdies plädiert er für eine Verbesserung von Haftbedingungen in Gefängnissen (vgl. FT 268) und wendet sich gegen eine lebenslange Freiheitsstrafe als „versteckte Todesstrafe“ (FT 268).

Im abschließenden 8. Kapitel unterstreicht der Papst die Bedeutung der verschiedenen Religionen und des interreligiösen Dialogs „zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit der Gesellschaft“ (FT 271). Er erinnert an die unbedingte Notwendigkeit zur Anerkennung einer „transzendenten Würde des Menschen“ (FT 273), aufgrund derer er mit unverletzlichen Rechten ausgestattet ist, die alle zu achten haben. Gesellschaften profitieren davon, wenn Gläubige verschiedener Religionen Gott in die Gesellschaft einbringen, sofern die Suche nach ihm nicht verzweckt oder ideologisiert wird (vgl. FT 274). Da Franziskus Reflektionen auf religiösem Fundament im öffentlichen Diskurs als Ergänzung der Stimmen von Mächtigen und Wissenschaftlern für eminent wichtig erachtet (vgl. FT 275), sieht er die Aufgabe der Kirche nicht nur auf den privaten Bereich beschränkt. Vielmehr ist sie in der Pflicht, „beim Aufbau einer besseren Welt“ (FT 276) aktiv mitzuarbeiten und sich in gesellschaftliche und politische Diskussionen und Entscheidungsprozesse einzubringen. Die Kirche ist gesandt, die Liebe Gottes zu verkünden (vgl. FT 278). Um diesen Auftrag in aller Welt verwirklichen zu können, bedarf es umfassender Religionsfreiheit in allen Ländern „für die Gläubigen aller Religionen“ (FT 279). Der Papst ist dabei überzeugt, dass eine friedliche Koexistenz der Religionen dieser Erde möglich ist (vgl. FT 281). Gewalt und Terror, die im Namen einzelner Religionen verübt werden, beruhen auf ihrer Instrumentalisierung und der falschen Interpretation religiöser Texte (vgl. FT 283). Der Papst betont den immanenten Auftrag der Religionen, nach Frieden zu streben, und sieht „religiöse Führungspersönlichkeiten“ (FT 284) in der Pflicht, in Konflikten und Auseinandersetzungen als Mittler tätig zu werden, die außer dem Erreichen von Frieden keine Absichten und Zwecke verfolgen sollen. Zum Ende hin rekurriert er erneut auf das Dokument von Abu Dhabi und greift dessen Aufruf zu „Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit“ (FT 285) auf. Bevor er die Enzyklika mit einem Gebet zum Schöpfer und einem ökumenischen Gebet schließt, nennt er insbesondere den seligen Charles de Foucauld als eine Inspiration für seine Enzyklika und bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass dessen  „Vision  einer  Ganzhingabe  an  Gott“ (FT 287) und sein Wunsch, „Bruder eines jeden Menschen“ zu sein (FT 287) uns ebenfalls inspirieren möge.

 Die Würdigung als pdf zum Download

(DBK: Foto: kna Bild)

Themen und Partnerportale