
Bischof Feige zum VolkstrauertagNächstenliebe wird zum Unwort
Gedenken mit klarer Botschaft: Das Erinnern am Volkstrauertag hat laut Bischof Feige einen wichtigen Auftrag für die Gegenwart. Bei einer Gedenkstunde am Sonntag, dem 16.11.2025, im Magdeburger Landtag warnte er vor zunehmender Fremdenfeindlichkeit.
Erscheinungsdatum: 16. November 2025
Der Volkstrauertag ist laut Bischof Gerhard Feige Mahnung und Auftrag zur Wachsamkeit. „Überall beobachten wir auch heute mit Sorge, dass Ängste geschürt und Sündenböcke gesucht werden, Vorurteile und Abgrenzungen zunehmen, Eigeninteressen höher rangieren als der Sinn für Solidarität“, sagte er am Sonntag, dem 16. November 2025, bei einer Gedenkstunde im Landtag von Sachsen-Anhalt in Magdeburg. „Nächstenliebe wird zum Unwort, und Fremdenfeindlichkeit gesellschaftsfähig.“
„Ideologien gewinnen wieder an Einfluss, die auf Selektion setzen, den Stärkeren verherrlichen und all diejenigen abwerten, die 'anders' oder scheinbar 'nutzlos' sind“, führte Feige aus. „Mehr denn je brauchen wir da noch konsequentere politische Bemühungen und eine mutige Zivilgesellschaft.“ Alle sollten noch entschlossener für die Würde eines jeden Menschen eintreten, für Freiheit und Demokratie, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Frieden und Toleranz.
Verfälschtes Erinnern und Gedenken
Feige rief zur aktiven Beschäftigung mit der Geschichte auf. Sich dabei der erfreulichen wie belastenden Erfahrungen früherer Generationen zu erinnern, sei bedeutend für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. „Die Erinnerung gehört zu unserem Leben und stiftet Identität. Das gilt für jeden und jede ganz persönlich wie auch für unser gemeinsames Miteinander. Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit vergisst, verfälscht oder überbetont, wird krank, immer leichter manipulierbar und letztlich unfähig, sich zukunftsträchtig zu erneuern.“
Im Nationalsozialismus sei der Volkstrauertag, so Feige, als Heldengedenktag zur Verklärung des Krieges eingesetzt worden. Die DDR habe den Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors dazu missbraucht, sich von der Vergangenheit abzusetzen, die Opfer der kommunistischen Herrschaft aber gezielt auszublenden. Auch heute versuchten manche Gruppierungen, das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer der Kriege ideologisch zu vereinnahmen. „Hier gilt es, die Stimme zu erheben und solchen Bestrebungen eine aufgeklärte Erinnerung entgegenzustellen, die um die Ambivalenzen der Welt und die historischen Begebenheiten weiß“, mahnte der Bischof.
Ansprache von Bischof Gerhard Feige zum Volkstrauertag am 16.11.2025
Volkstrauertag 2025
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
sehr geehrter Herr Vorsitzender des Volksbundes in Sachsen-Anhalt,
sehr geehrte Abgeordnete und sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
verehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
1951 in Halle an der Saale geboren und fast 40 Jahre DDR-sozialisiert ist mir erst vor einiger Zeit – wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg – bewusst geworden, dass ich auch ein Nachkriegskind bin. Obzwar ich den II. Weltkrieg nicht mehr selbst erlebt habe, bin ich doch von seinen Auswirkungen mitgeprägt und habe schon als Kind von Fliegeralarm und Luftschutzbunkern geträumt. Offensichtlich haben meine Eltern immer und immer wieder davon erzählt, um mit ihren schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden, im Alltag wie bei Familienfeiern. Dabei berichtete mein Vater oftmals von seinem Militärdienst und seiner Gefangenschaft und wollte vor seinem Tod unbedingt alles noch einmal aufschreiben; dazu ist es aber nicht mehr gekommen. Erzählungen von Vertreibung und Flucht, Entwurzelung und Neuanfang in der Fremde gehörten für viele Familien wie auch meine Verwandten zu ihren Lebensthemen. Und unsere katholischen Gemeinden hier in dieser Region wurden für unzählige Vertriebene und Geflohene aus Schlesien und dem Ermland, Böhmen und Mähren oder aus der Bukowina zu einer neuen Heimat. Auch meine Vorfahren väterlicherseits stammen aus Niederschlesien. Ich selbst wurde Teil der familiären Erinnerung, indem ich bei meiner Geburt den Vornamen des Verlobten einer meiner Tanten bekam, der als vermisst galt und von dem sie bis an ihr Lebensende gehofft hat, dass er doch eines Tages wieder zurückkäme. Aufgrund ihrer Nachfragen beim DRK-Suchdienst und der Antworten, die sie be-kam, kann ich nur staunen, wie intensiv man sich dort bemüht hat, derartige Schicksale zu klären. Eigenartig berührt hat mich auch, als ich nach meiner Priesterweihe 1978 als Seelsorger noch jahrelang immer wieder von den dramatischen Kriegs- und Fluchterlebnissen unserer Gemeindemitglieder zu hören bekam: von ihren Gewalt- und Verlusterfahrungen, Ängsten und Entbehrungen, biographischen Brüchen und unbewältigten Traumata, von ihrer Trauer und wehmutsvollen Sehnsucht nach der alten Heimat, aber auch von dem unbändigen Willen, durchzuhalten und wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Viele waren erstaunlicherweise durch das, was sie erlebt und erlitten hatten, sogar widerstandsfähiger geworden und haben sich durch die neuen Herausforderungen nicht entmutigen lassen. Dass solche Erlebnisse und Erfahrungen von den Betroffenen nicht vergessen werden können, ist verständlich. Bemerkenswerterweise wirkt sich das aber auch Generationen übergreifend auf andere aus und prägt sich jahrzehntelang in das familiäre und ge-sellschaftliche Gedächtnis ein. Nicht selten braucht es seine Zeit, um sich Bahn zu brechen, und kann erst mit Abstand und Lebenserfahrung in Worte gefasst, reflek-tiert und kritisch beurteilt werden. Davon gibt auch die Literatur über Kriegskinder, Nachkriegskinder und sogar Kriegsenkel eindrucksvoll Zeugnis.
„Zukunft braucht Herkunft“, so hat es der Philosoph Odo Marquard einmal formuliert. Auch wenn es wissenschaftlich umstritten ist und kaum möglich erscheint, aus der Geschichte zu lernen, so kann es doch hilfreich und heilsam sein, sich mit ihr zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Sich dabei der erfreulichen wie belastenden Erfahrungen früherer Generationen zu erinnern, ist nicht unbedeutend für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft. Wir müssen wissen, wo wir herkommen, was uns prägt, beeinflusst und bewegt. Die Erinnerung gehört zu unserem Leben und stiftet Identität. Das gilt für jeden und jede ganz persönlich wie auch für unser gemeinsames Miteinander. Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit vergisst, verfälscht oder überbetont, wird krank, immer leichter manipulierbar und letztlich unfähig, sich zukunftsträchtig zu erneuern. Das deutet auch Erich Kästner in einem seiner Gedichte recht unverblümt an: „Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um. Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.“ Einerseits bedarf es also wohl einer ausgewogenen Betrachtung früherer Zeiten, andererseits aber auch einer schonungs-losen Rückschau auf das, was „böse“, ja entsetzlich und grauenvoll war. Allzu oft wurde die Erinnerung an die Vergangenheit im Laufe der Geschichte verfälscht und instrumentalisiert, verschwieg oder rechtfertigte, verharmloste und beschönigte man, was eigentlich ungeheuerlich war. Im Nationalsozialismus wurde der Volks-trauertag als Heldengedenktag zur Verklärung des Krieges eingesetzt, während die DDR den Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors dazu missbrauchte, sich von der Vergangenheit abzusetzen, die Opfer der kommunistischen Herrschaft aber gezielt auszublenden. Und auch heute versuchen manche Gruppierungen, das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer der Kriege oder die Bombardierungen am Ende des II. Weltkrieges zu besetzen und ideologisch zu vereinnahmen. Hier gilt es, die Stimme zu erheben und solchen Bestrebungen eine aufgeklärte Erinnerung entgegenzustellen, die um die Ambivalenzen der Welt und die historischen Begebenheiten weiß.
Feste Orte und wiederkehrende Zeiten helfen dabei, Erinnerung wach zu halten und weiterzugeben. In meiner Kindheit waren das vielerorts noch verschiedene Häuser und Kirchen, die Kriegsschäden aufwiesen, Ruinengrundstücke oder übriggebliebene Bunker. Einiges wurde sogar erst nach 1989 saniert, bereinigt oder wiederaufgebaut. Ganze Innenstädte in ihrem heutigen Zustand – wie in unserer Region die von Magdeburg, Halberstadt oder Dessau – täuschen nicht darüber hinweg, dass hier nach den verheerenden Bombardierungen am Ende des II. Weltkrieges nur noch Trümmerfelder übriggeblieben waren. Und die Stolpersteine an manchen Stellen unserer Städte halten das Gedächtnis an Mitbürgerinnen und Mitbürger – Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder Euthanasieopfer – wach, die im Nationalsozialismus vertrieben oder umgebracht wurden. Und auch auf unseren Friedhöfen finden sich Gräber und Gedenkstätten als Zeugnisse einer Wirklichkeit, die vielen inzwischen fremd und weit weg erscheint. Ich selbst aber wurde schon während meiner Schulzeit und meines Studiums mit Orten konfrontiert, die mich zutiefst bewegt und fassungslos gemacht haben; später lernte ich noch andere kennen. Dazu gehören das Konzentrationslager Buchenwald und die Vernichtungslager Lublin-Majdanek und Auschwitz-Birkenau, aber auch die Gedenkstätte Isenschnibbe bei Gardelegen, wo bei einem Massaker nur wenige Tage vor Kriegsende noch 1.016 KZ-Häftlinge auf brutalste Weise er-mordet wurden, und besonders Yad Vashem in Jerusalem, eines der größten Holocaust-Museen der Welt. Allein hier wird an rund 1,5 Millionen umgebrachte Kinder und Jugendliche erinnert, aber auch der Heldenmut derer gewürdigt, die trotz per-sönlicher Risiken selbstlos zur Rettung von Juden beigetragen haben. Besonders erschüttert hat mich immer, wenn ich auf Fotos in die Gesichter der Menschen schauen konnte, die da ohnmächtig ihren Peinigern und Mördern ausgeliefert waren, wenn einzelne Namen verlesen wurden oder Kinderspielzeuge und andere persönliche Gegenstände zu sehen waren, die beim Gang in die Gaskammern zurückgelassen werden mussten. Aber auch ehemalige Frontverläufe und Schlachtfelder erinnern an die Opfer, die im Kampf um völkisch-nationalistische Interessen verwundet wurden oder jämmerlich umgekommen sind. Mancherorts finden sich Hinweise auf solche Kampfstätten oder auf Soldatengräber. Bei einem Besuch in der französischen Stadt Châlons in der Champagne habe ich aus dem Fenster meiner Unterkunft auf einen Friedhof schauen können, auf dem 4.500 Soldaten aus dem I. Weltkrieg begraben sein sollen. Und in der westukrainischen Stadt L‘viv – oder auch Lemberg genannt – wurde ich durch Freunde auf einzelne Gräber deutscher Soldaten hingewiesen, die nicht öffentlich bekannt waren, aber rührend gepflegt wurden. Schließlich gehören auch zwei Hinrichtungsstätten in unserer Nähe zu solchen Orten, die für mich eine besondere Bedeutung haben. Das ist zum einen das ehemalige Zuchthaus „Roter Ochse“ in Halle. In ihm wurde 1944 auch Carl Lampert, ein österreichischer Priester, durch das Fallbeil hingerichtet. Er hatte nicht schweigend hinnehmen können, wie die Nationalsozialisten die menschliche Würde mit Füßen traten und zu welchen Gräueltaten sie fähig waren. Jahrelang hatte er dafür gebetet und sich eingesetzt: „dass Menschen wieder Menschen werden“. Seit einigen Jahren trägt die größte Pfarrei unseres Bistums den Namen die-ses 2011 seliggesprochenen Widerstandkämpfers. Zum anderen ist es die Justiz-vollzugsanstalt Brandenburg-Görden, in der Max Josef Metzger, ein deutscher Priester, im gleichen Jahr wegen seiner pazifistischen Überzeugung als Hochverräter enthauptet wurde. Schon 1975 wurde die Straße an unserem Ordinariat nach ihm benannt; inzwischen ist auch er seliggesprochen worden. Bei allem fragwürdigen Verhalten der Mehrheit gab es neben diesen beiden auch noch viele andere mutige Menschen, die nicht geschwiegen oder sogar „mit den Wölfen geheult“ haben, sondern ihrem Gewissen gefolgt sind und bereit waren, dafür auch die Konsequenzen zu tragen.
Vergangenheit und Geschichte kann man zu begreifen versuchen, erforschen und darstellen, von den jeweiligen Voraussetzungen, Ereignissen und Auswirkungen her, in kleinen Abschnitten oder großen Zusammenhängen, wissenschaftlich oder populär, mit Distanz oder Leidenschaft. Darüber hinaus kann die Erinnerung daran aber auch tiefschürfende Fragen auslösen und existentiell unter die Haut bis ans Herz gehen. Diese Möglichkeit erschließt sich mir auch aus einem Buch, das der Religionssoziologe Hartmut Rosa aus Jena vor einiger Zeit veröffentlicht hat und den Titel trägt: „Demokratie braucht Religion“. Was ist damit gemeint, vor allem, wenn Kirche und Staat getrennt sind? Auf jeden Fall ist Religion ein Begriff, der auf vielfältige Art und Weise verwendet wird. Nach Johann Baptist Metz ist ‚Unterbrechung‘ die wohl kürzeste Definition von Religion. Andere beschreiben Religion als ‚Weltabstand‘ (Henning Luther), ‚Letztgültiges‘ (Fritz Oser), ‚Kontingenzbewältigung‘ (Niklas Luhmann, Peter Berger) oder ‚das, was uns unbedingt angeht‘ (Paul Tillich). Hier kommt Gott zunächst nicht vor, zumindest nicht ausdrücklich. Es sind aber Versuche, mit Erfahrungen und Gegebenheiten des Lebens umzugehen, sich an etwas oder jemandem auszurichten, wovon man überzeugt ist, dass es dem Leben Sinn gibt. Es ist eine Haltung zum Alltag und zur Welt, die es ermöglicht zu hinterfragen und den Blick öffnet, tiefer und weiter zu schauen. Und Hartmut Rosa ist davon überzeugt, dass eine Gesellschaft so etwas braucht. Man kann auf Dauer nicht nur von Arbeit und Beschäftigung, Leistung und Erfolg, Wettbewerb und Kampf, Lärm und Hektik, Konsum und Vergnügen leben, gewissermaßen wie in einem Hamsterrad, ständig unter Druck. Wir brauchen auch sogenannte Resonanzräume, in denen unsere Seele unerwartet berührt wird und etwas in uns zum Klingen kommt, was nicht bewusst von uns selbst stammt. Das kann in der Natur sein oder Musik bewirken, das kann in der Stille oder in einem Gottesdienst geschehen, das können auch andere Erlebnisse auslösen: die Geburt eines Kindes oder Ausgelassenheit und Freude bei einem Fest. Ergriffenheit und Rührung, Staunen und Dankbarkeit sind oftmals die Folge. Angesichts von Krankheit, Katastrophen und Tod oder – womit uns der heutige Gedenktag konfrontiert – der Erinnerung an furchtbare Geschehnisse wie Krieg und Mord, Verrohung und Entmenschlichung können sich aber auch Trauer und Verzweiflung, Entsetzen und Abscheu einstellen, manchmal verbunden mit einer Sehnsucht danach oder einer Ahnung davon, dass es trotzdem vielleicht doch noch im Leben gewissermaßen „mehr als alles“ geben muss.
Dazu kommen nicht selten Fragen von grundlegender Bedeutung auf, vor allem, warum es so viel Leid in der Welt gibt. Wer ist dafür verantwortlich? Und wenn der allmächtige und gütige Gott es ist, der dies zulässt, wie kann man dann noch an ihn glauben? In unzähligen Formen sind solche Fragen immer wieder erhoben worden: von Gläubigen und Atheisten, persönlich Betroffenen sowie Dichtern und Philosophen. Wir hören sie vom gequälten Ijob im Alten Testament, von Iwan in Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“, von Albert Camus in seinen Werken oder anderen erschütternden Zeugnissen gefangener, leidender und erniedrigter Menschen. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hat darin im 17. Jahrhundert eine Kernfrage von Theologie und Philosophie gesehen. Besonders aber haben die mas-senhaften Vernichtungen und grauenhaften Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Menschen an der Existenz Gottes zweifeln lassen. Der Glaube an einen gütigen und allmächtigen Gott war kaum noch vorstellbar, nachdem Millionen Menschen unsägliches Leid angetan worden war und niemand die Verantwortlichen daran hinderte. „Wo war Gott in Auschwitz?“ Sicher verbietet sich auf diese Frage jeder leichtfertige und wohlfeile Erklärungsversuch. Gesagt werden könnte lediglich, dass Gott, auch wenn er sich – wie wir glauben – im Laufe der Zeit auf vielfältige Weise und besonders in Jesus Christus geoffenbart hat, letztlich ein Geheimnis ist und bleibt, kein totalitärer Machthaber, der ständig und unmittelbar das Schicksal jedes einzelnen Menschen bestimmt, keine himmlische Überwachungsinstanz, aber auch kein Handlanger irgendwelcher Eigeninteressen oder nur dazu da, um unsere Wünsche zu erfüllen. Selbstherrlich zu behaupten „Gott ist mit uns“, zeugt darum von ungeheuerlicher Anmaßung. Zugleich lässt sich sagen, dass er uns Menschen nicht als Marionetten geschaffen hat und willkürlich sein Spiel mit uns treibt. Selbst wenn wir uns in vielem durch Erbanlagen und äußere Bedingun-gen als ziemlich festgelegt empfinden, sind wir doch freiheitliche Wesen mit einem eigenen Willen und dafür verantwortlich, unser Leben und die zwischenmenschlichen Verhältnisse mitzugestalten.
Darum ist mit dem Holocaust nicht nur der Glaube an und das Vertrauen auf die Existenz Gottes ins Wanken geraten, hat auch die Vorstellung vom Menschen als „die Krone der Schöpfung“, ausgestattet mit Würde und geschaffen als Gottes Ebenbild, tiefe Risse bekommen, könnte man – wie Johann Baptist Metz – auch fragen: „Wo war der Mensch in Auschwitz?“ Waren das noch Menschen, die in ih-ren Gegenübern keine Menschen mehr gesehen haben und sie deshalb auch menschenunwürdig behandelten? Bleiben wir nicht hinter unserem Menschsein zurück, wenn wir andere zu namen- und gesichtslosen „Dingen“ degradieren, um sie dann auch als solche zu behandeln? Bleiben wir nicht ebenso hinter unserem Menschsein zurück, wenn wir gedankenlos Befehle ausführen oder einem hysterischen Mob folgen, ohne von unserer Freiheit Gebrauch zu machen, möglichst vernünftig und angemessen, einfühlsam und wohlwollend zu reagieren? Hätte den alten Philosophen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zufolge die voranschreitende Aufklärung den Menschen nicht immer freier, immer vernünftiger, immer gerechter machen sollen? Stattdessen können auch heute noch Menschen eiskalt, brutal und grausam sein, müssen wir wohl nach wie vor Angst vor unserer eigenen Macht und Ohnmacht empfinden: vor der Macht zu zerstören und vor der Ohnmacht, sich selbst zu begreifen und der eigenen Unmenschlichkeit Herr zu werden? Offensichtlich steckt die unberechenbare und unheimliche Macht des Bösen in vielen Menschen. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls auch Alexander Solschenizyn mit seiner Aussage: „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz. Diese Linie ist beweglich, sie schwankt im Laufe der Jahre. Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten, selbst im gütigsten Herzen – ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.“ Diese Wirklichkeit gilt es ernst zu nehmen.
Darum ist die Erinnerung am Volkstrauertag kein Selbstzweck, sondern Mahnung und Auftrag, nach wie vor wachsam zu sein. Unsere Welt ist nicht frei von Spannungen und Konflikten. Überall beobachten wir auch heute mit Sorge, dass Ängste geschürt und Sündenböcke gesucht werden, Vorurteile und Abgrenzungen zuneh-men, Eigeninteressen höher rangieren als der Sinn für Solidarität. Ideologien ge-winnen wieder an Einfluss, die auf Selektion setzen, den Stärkeren verherrlichen und all diejenigen abwerten, die „anders“ oder scheinbar „nutzlos“ sind. Feindbilder und Verschwörungsmythen gehören dazu, Empörungswellen und Hasslawinen. Nächstenliebe wird zum Unwort, und Fremdenfeindlichkeit gesellschaftsfähig. Die Herausforderungen sind enorm; Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen, erscheint fast unmöglich. Mehr denn je brauchen wir da noch konsequentere politische Bemühungen und eine mutige Zivilgesellschaft, sollten alle Menschen guten Willens noch entschlossener für die Würde eines jeden Menschen eintreten, für Freiheit und Demokratie, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Frieden und Toleranz.
Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ „Im Gesicht irgendeines Menschen die Schwester oder den Bruder sehen“: das ist in der Tat gewissermaßen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und der Völker. Sich dafür mit Fantasie und Tat-kraft zu mühen und darin nicht nachzulassen, sollte uns allen ein Herzensanliegen sein.
Quelle: Katholische Nachrichtenagentur kna; Bistum Magdeburg, Pressestelle, presse@bistum-magdeburg.de, 0391-5961134



